Auf sanften Schwingen kommt der Tod by Lena Avanzini

Auf sanften Schwingen kommt der Tod by Lena Avanzini

Autor:Lena Avanzini [Avanzini, Lena]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Haymon
veröffentlicht: 2017-02-28T23:00:00+00:00


22

Aus dem Buch der Kränkungen

#2 Elisabeth

Es ist später Vormittag, als ich in Innsbruck ankomme. Du bist nicht zu Hause, zumindest machst du auf mein Klingeln die Tür nicht auf. Natürlich, denke ich, du arbeitest bestimmt. Ich fahre mit dem Bus zum Krankenhaus. Aber in der Kinderklinik bist du auch nicht. Nicht weil du an dem Tag keinen Dienst hast, sondern weil du überhaupt nie dort gewesen bist. Keine Schwester Elisabeth in der Neonatologischen Intensivstation, keine in der Nachsorge- oder der Neugeborenenstation. Weit und breit keine Schwester Elisabeth. Elisabeth Marie Winsauer?

Unbekannt.

Da begreife ich, dass alles eine Lüge ist.

Schon als Kind hast du eine blühende Fantasie gehabt und dir gern Geschichten ausgedacht. Damals waren es Märchen mit Einhörnern, bösen Zauberern, die Kinder fraßen, und lieblichen Feen, die die Gefressenen retteten, und immer ging alles gut aus. Ich habe deine Märchen geliebt, obwohl ich danach kaum einschlafen konnte, vor Aufregung. Jetzt denke ich, dass du nie aufgehört hast mit der Märchenerzählerei. Die lieblichen Feen sind zu Krankenschwestern geworden – aber ob am Ende alles gut ausgehen wird?

Den ganzen Tag warte ich vor deiner Wohnung, doch du kommst nicht. Als die Dunkelheit hereinbricht, mache ich mich auf die Suche nach einer Unterkunft. Beim Überqueren der Leopoldstraße sehe ich dich.

Gegenüber dem Glockenmuseum Grassmayr gehst du auf und ab. Immer genau sieben Schritte vor und sieben zurück. Ich erkenne dich sofort, trotz deines Babydoll-Kleidchens und dieser Stiefel, die nicht nach Stiefeln aussehen, sondern nach Folterinstrumenten.

Du dagegen ahnst nicht, wen du vor dir hast. „Na, Schnuggi“, sagst du, „Lust auf einen Quickie?“

Ich stehe nur stumm da und versuche, die bittere Erkenntnis zu verarbeiten.

„Für dich nur dreißig Euro.“

Ich schnappe nach Luft. Suche nach einem Zeichen, dass ich mich getäuscht habe. Dass du es doch nicht bist. Nicht du, sondern bloß irgendeine verdammte Nutte. Aber es gibt kein solches Zeichen. Ohne Zweifel stehe ich meiner Schwester gegenüber, nicht einmal die zentimeterdicke Schminkeschicht kann das verbergen, die du dir ins Gesicht gekleistert hast.

„Französisch für einen Zwanziger. Und …“ Endlich bemerkst du, dass etwas nicht stimmt. Du kneifst die Augen zusammen. Dann nennst du mich beim Namen, bei dem alten, verhassten Namen, den ich längst abgelegt habe. Kurz blitzt Freude in deinen Augen auf, aber sie hält sich nicht lang. Schlägt um in Scham. In Wut. „Verdammt, was machst du hier? Wieso hast du nicht angerufen?“

Wie denn? Du stehst nicht im Telefonbuch. Es war schon eine Meisterleistung, deine Adresse herauszufinden. In deinen Briefen, diesen wundervollen, poetischen Briefen, hast du immer nur ein Postfach angegeben.

„Was gaffst du so? Hast du noch nie eine Nutte gesehen?“

Mir fehlen die Worte. Gibt es Worte für so eine Situation?

„Ja, ich gehe auf den Strich. Jetzt weißt du’s. Zufrieden?“

Ich öffne den Mund, aber es kommt nur Luft heraus.

„Ob du zufrieden bist, hab ich dich gefragt!“, keifst du.

Endlich erwache ich aus meiner Schockstarre. Ich gehe auf dich zu und umarme dich. Küsse deine Wangen, lasse meinen Gefühlen freien Lauf. Wie lange wir uns nicht gesehen haben! Wie sehr ich dich vermisst habe!

Du machst dich los und lotst mich in deine Wohnung.



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