Auf dem Chimborazo by Tankred Dorst

Auf dem Chimborazo by Tankred Dorst

Autor:Tankred Dorst [Dorst, Tankred]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag


12

DOROTHEA Das stimmt doch gar nicht, Klara! Dein Leben kann doch gar nicht schön gewesen sein!

KLARA Ja, ja.

DOROTHEA Mit der Mutter!

KLARA will nicht darauf eingehen Ja, ja.

DOROTHEA Was hatten wir Mitleid mit dir! Damals bei der letzten Wahl Dreiunddreißig. Zwei kommunistische Stimmen gab es im ganzen Ort, zwei! Eine war von deiner Mutter. Das wußte jeder. Jeder wußte das! Du bist aus Angst am nächsten Tag gleich in die NSDAP eingetreten, aus lauter Angst! Und hast die ganze Nazizeit Angst vor deinem Schulleiter gehabt. Der war ja auch schrecklich! Ein ganz wilder Nazi! Fünfundvierzig ist der natürlich schnell verschwunden in den Westen und ist katholisch geworden, und du hast wieder dagesessen und hast wieder Angst gehabt! Triumphierend. Vor den Kommunisten! Immer Angst! Erst vor der Mutter! Dann vor den Nazis! Dann vor den Kommunisten! Ich sehe dich ja immer bei uns in dem blauen Sessel sitzen, und immer Angst!

Klara kichert verlegen.

Ich sehe dich noch, wie du angsterfüllt voller Aufregung hereinkommst. »Dorothea, du mußt mitkommen auf den Sportplatz! Der Gauleiter spricht, und es sind nur drei Personen gekommen.« Ich? Auf den Sportplatz? Ich denke doch nicht daran! Da sind vielleicht drei Personen gekommen, oder vier Personen, oder nur eine Person, was geht mich denn das an! »Drei Personen!«, hast du immer wieder gesagt. Das weiß ich noch genau.

KLARA kichert verlegen Das weiß ich gar nicht mehr.

DOROTHEA Mit der Mutter!

KLARA Meine Mutter war aber nicht so, wie dann später die Kommunisten waren.

DOROTHEA Na!

KLARA Sie war eigentlich mehr freidenkerisch.

DOROTHEA Nacktkultur!

KLARA schnell Sie war nicht bolschewistisch. Den doktrinären Marxismus hat sie vollkommen abgelehnt. Sie war Anhängerin von Silvio Gesell und für Räterepublik. Ich entsinne mich, zu Hause hing immer ein Bild von dem Dichter Ernst Toller.

HEINRICH Toller?

KLARA Ja. Sie war auch vegetarisch.

DOROTHEA Sie ist doch auch in der Schweiz verhaftet worden. In Genf.

KLARA Jaja, da hatte sie Verbindung zu einem Kreis gleichgesinnter Menschen.

DOROTHEA Sie ist mitten auf der Straße verhaftet worden. Sie hatte ein Loden-Cape an, und darunter war sie nackt.

KLARA Ach, Dorothea, das ist mir peinlich —

DOROTHEA triumphierend Ganz nackt! Und das war doch eine ganz häßliche Frau mit einem Kropf. Unästhetisch, so ein alter Körper! Auf der Straße, vor allen Leuten.

KLARA Das war eben ihre Weltanschauung.

DOROTHEA Wenn ich mir das vorstelle, deine Mutter, nackt! Die alte Frau Falk, dieser dürre Körper mit der faltigen Haut. Und sie muß doch auch eine ganz große Narbe gehabt haben, eine Narbe am Bauch, sie hatte doch eine schwere Bauchoperation. Schrecklich! Wie furchtbar leid hast du mir da getan!

HEINRICH Die alte Frau Falk war eigentlich ihrer Zeit voraus…

DOROTHEA Na, danke!

KLARA Ihr Ideal war die Befreiung des Körpers und des Geistes.

HEINRICH In so einem kleinen Ort fand man das natürlich komisch.

DOROTHEA Komisch! — Der Brief, den sie mir geschrieben hat, war ganz und gar nicht komisch.

KLARA Den Brief hast du vielleicht in deinem Kummer auch falsch verstanden.

DOROTHEA Da war nichts falsch zu verstehen. Zu Heinrich, der wie alle Anwesenden die Briefgeschichte längst kennt. »Wenn man Geld hat, ist Krankheit nicht so schlimm«, — hat sie geschrieben. Und



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