Altern wie ein Gentleman by Sven Kuntze

Altern wie ein Gentleman by Sven Kuntze

Autor:Sven Kuntze
Die sprache: de
Format: mobi
Herausgeber: PeP eBook
veröffentlicht: 2011-04-20T22:00:00+00:00


Einsamkeit und andere Gesellungsformen

»Ein Gemeinwesen ist so reich,

wie es Zusammenhänge stiftet.«

ALEXANDER KLUGE

Kürzlich habe ich zum Telefon gegriffen und Rolf Scheer angerufen. Er, andere und ich hatten einst das soziologische Institut der Universität Tübingen besetzt, mit dem Ziel, die Wissenschaft zu demokratisieren, wie das damals hieß. Der Leiter des Seminars hatte sich jedoch dem kritischen Diskurs entzogen und war auf die Toilette geflüchtet. Wir, es war noch zu Beginn der Studentenbewegung, wagten vorerst nicht, die Tür einzutreten, und überlegten hin und her, ob dies ein revolutionärer Akt oder kleinbürgerliche Sachbeschädigung sein würde. Als schließlich die revolutionäre Linie obsiegt hatte und die Tür aufgebrochen war, fanden wir die Toilette leer vor. Unser Professor war bei dem Versuch, durch das Fenster zu entkommen, abgestürzt und lag stöhnend mit verstauchtem Bein inmitten der Dornen eines üppig blühenden Rosenbeets.

Geschah ihm recht, dem vermaledeiten Positivisten, was damals, heute schwer nachvollziehbar, ein wüstes Schimpfwort gewesen war. Der Demokratisierung der Wissenschaften war hiermit guter Dienst getan, fanden wir. Später wurden Rolf Scheer und ich wegen Körperverletzung angeklagt. Bevor das Gericht jedoch zusammentreten konnte, erlöste uns eine Amnestie für den rebellischen Nachwuchs, dessen besorgte Eltern die Karrieren ihrer Kinder in Gefahr sahen.

Später habe ich Rolf aus den Augen verloren und über Jahrzehnte nichts mehr von ihm gehört, bis mir ein Kommilitone, mit dem ich in lockerem Kontakt geblieben war, erzählte, Rolf sei Lehrer in Offenburg. Daraufhin griff ich zum Telefon.

»Sven hier. Sven Kuntze!«

»Ach, dich gibt es noch! Mit dir hätte ich jetzt wirklich nicht gerechnet. Wie geht‘s dir?«

Ein wenig überraschter hätte er schon sein dürfen.

»Was machst du?« – »Und was treibst du so? Wie ist es dir ergangen? Erzähl!« – »Weißt du noch?« – »Hast du von dem je wieder was gehört?« – »Erinnerst du dich?« – »Bist du immer noch mit der zusammen?« – »Hast du deine Arbeit zu Ende geschrieben?« – »Nein!« – »Ich auch nicht!« – »Ach, die ist tot?« – »Unfassbar, was aus dem geworden ist!«

So ging das unvermittelt los und fand keine Pause, bis ein Termin den Redefluss unterbrach. Im Handumdrehen war ein dichtes Geflecht von Erinnerungen und Themen, Neugierde und Nähe entstanden. Keine Spur jener Befangenheit und des unsicheren Tastens, die jedem Anfang eigen sein können. Wir stehen seither in Kontakt.

In den zurückliegenden Jahren und vor allem nach Beginn meiner Berufstätigkeit und der damit verbundenen Mobilität hatte ich manche Freundschaft beiseitegelegt und gedankenlos aufgegeben. In den seltensten Fällen waren Streit und unüberwindbare Differenzen der Anlass gewesen, vielmehr Ortswechsel, neue Bezugsgruppen, in die alte Freunde nicht mehr passten, oder jene Achtlosigkeit, die Folge neuer Chancen und vielfältiger Perspektiven sein kann. Doch solche verschlampten Freundschaften können mit Gewinn wiederbelebt werden, denn »jeder Freund hinterlässt einen Abdruck im Inneren des anderen«, der auch Jahrzehnte später nicht ganz verweht ist. Gemeinsame Erfahrungen, die vierzig und mehr Jahre zurückliegen und in einer Zeit gemacht wurden, in der man, oft unbewusst, wurde, was man ist, sind von erstaunlicher Zähigkeit. Ihre Tragfähigkeit als Fundament einer Freundschaft hat häufig unbeschädigt die Jahrzehnte überdauert. Ohne Schwierigkeiten kann man an die losen Fäden der Vergangenheit anknüpfen, als ob sie nur darauf gewartet hätten.



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