Als Pimpf in Polen. Erweiterte Kinderlandverschickung 1940–1945 by Jost Hermand

Als Pimpf in Polen. Erweiterte Kinderlandverschickung 1940–1945 by Jost Hermand

Autor:Jost Hermand [Hermand, Jost]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105600962
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-06-23T16:00:00+00:00


Als der »hohe Tag« der Jugendweihe kam, marschierten wir mit frischgewaschenen Uniformen und blitzblanken Schuhen nach Standau (heute Straszewo), einem etwa sechs Kilometer entfernt gelegenen Ort, wo sich vermutlich das Polizei- und SS-Zentrum dieser Gegend befand. Die Feier selbst fand im großen Saal des dortigen Rathauses oder Verwaltungsgebäudes statt, in dem sich eine kleine Bühne befand, auf der wir in zwei Stuhlreihen Platz nehmen mußten. Nachdem wir unsere Sprüche aufgesagt hatten und einer der SS-Leute eine kurze, betont zackige Rede gehalten hatte, wurde fast eine Stunde lang gesungen. Erst gab es, wie üblich, das Horst-Wessel-Lied und das Deutschlandlied, dann den ebenso unvermeidlichen Marsch der Hitler-Jugend, der mit der Zeile »Vorwärts! Vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren« beginnt, und schließlich die erwähnte Donauwalzer-Serie, während der ich einerseits – aus Angst vor einem verpatzten Einsatz – Blut und Wasser schwitzte, andererseits als Star zu glänzen versuchte. Ich kriegte zwar mein kurzes Solo recht gut hin, mußte aber dafür wochenlang die Hänseleien der anderen Jungen ertragen, die mich wegen meines Knabensoprans und der Tatsache, daß es mir noch nicht »kam«, unentwegt in die Mangel nahmen. »Aus dir wird nie ein Mann!«, höhnten die einen. Andere versuchten, mir durch Zwangsmasturbationen endlich zu der erwünschten Männlichkeit zu verhelfen.

Deshalb war ich heilfroh, als ich Anfang Juni unerwartet zwei Wochen Urlaub erhielt und zurück ins Reich, zu meiner Mutter, durfte. Wie meine Mutter es geschafft hatte, mich aus Groß-Ottingen loszueisen, weiß ich nicht mehr. Doch sie hatte es bei irgendeiner Stelle durchgesetzt. Und so saß ich wenige Tage, nachdem mich die frohe Botschaft erreicht hatte, in einem Zug nach Posen und fuhr von dort aus weiter nach Berlin. Hier durften wir allerdings – wegen der unablässigen Bombenangriffe – aufgrund einer Parteiverfügung nicht bleiben. Deshalb fuhr meine Mutter bereits am nächsten Tag mit mir über Kassel nach Obersuhl, einem Ort an der Grenze zwischen Hessen und Thüringen, wo wir bei entfernten Verwandten Unterkunft fanden. In den folgenden acht Tagen, in denen wir auf dem Dachboden eines alten Bauernhauses in einem Bett schlafen mußten, erzählte ich meiner Mutter höchst detailliert, was mir in den letzten Monaten im Lager zugestoßen war. Nur die übelsten sexuellen Mißhandlungen ließ ich aus, weihte sie aber sonst in alles ein, was wir an sogenannten Leibesertüchtigungen, Geländespielen, Prügeln und Strafen erdulden mußten. Ich weiß noch genau, wie außer sich meine Mutter über meine Berichte war, zu denen ich immer wieder neu und mit stotternder Stimme ansetzen mußte. Allerdings wußte sie, wahrscheinlich durch Gespräche mit den Obleuten jener NS-Behörden, bei denen sie meinen Urlaub beantragt hatte, daß sie gegen das übliche Härtetraining keinen Einspruch erheben durfte und froh sein mußte, daß man mich überhaupt zwei Wochen aus dem Lager herausgelassen hatte. Weil sie mir also nicht helfen konnte, gab sie sich wenigstens während dieser Tage alle Mühe, mich in jeder Weise zu verwöhnen und mir dadurch etwas Zuversicht mit auf den Weg zu geben.

Auf dem Rückweg behielt mich meine Mutter – trotz des parteiamtlichen Verbots und der anhaltenden Bombenangriffe – noch ein paar Tage heimlich bei sich in Berlin.



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