Alles was ich sage ist wahr by Bjaerbo Lisa

Alles was ich sage ist wahr by Bjaerbo Lisa

Autor:Bjaerbo, Lisa [Bjaerbo, Lisa]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 978-3-407-74448-7
Herausgeber: Beltz Gelberg
veröffentlicht: 2014-03-27T23:00:00+00:00


Zwei

Es gibt Augenblicke, die man bis ans Ende seines Lebens nicht vergessen wird. Ob man es will oder nicht. Man weiß, dass man von nun an jedes Mal, wenn man dieses Gefälle passiert, diesen Bürgersteig, diesen Platz, an diesen Augenblick denken wird. Papas Worte werden in meinem Ohr hallen, und jedes Mal, wenn ich sie höre, werde ich das Ziehen im Bauch spüren, das ich in jenem ersten Moment gespürt habe, obwohl ich inzwischen darauf vorbereitet bin, weil es sich schon tausendmal wiederholt hat.

Oma ist heute Nacht gestorben.

Das wird nie mehr verblassen.

* * *

Ich kann nicht genau sagen, wie, aber ich schaffe es, das Rad zu wenden, es die Steigung hinaufzuschieben und wieder zurück nach Hause zu fahren. Sie sitzen am Küchentisch. Mama ist blass. Sie knetet manisch ihre Hände und schüttelt mit dem Kopf. Papas Hand auf ihrer Schulter. Olle auf seinem Schoß, eingeschüchtert. Er schaut abwechselnd von Mama zu Papa, als hätte er Angst, sie könnten sich in Luft auflösen. Poff, und weg sind sie.

Ich stehe auf der Türschwelle und sehe sie an. Höre ihre Stummheit. Beobachte ihre Regungslosigkeit. Von hier ist das eine nahezu perfekte Szene. Etwas Schreckliches ist passiert, so viel ist zu erkennen, aber solange sie nichts sagen, weiß man nicht genau, was.

Ich würde gern die Pausetaste drücken.

Und auf die Fortsetzung verzichten.

Einfach nur dastehen, festgefroren, bis der Nachspann über den Bildschirm rollt.

Aber als ich die Tränen auf Mamas Wangen sehe, funktioniert das nicht länger. Ich werde von unsichtbaren Händen in die Küche geschoben und lande wie ein Zementsack neben Mama auf dem Boden.

Drücke mein Gesicht auf ihren Schoß.

Fühle ihre Hände auf meinem Haar.

Höre sie nach Luft schnappen.

»Alicia, mein Schatz«, sagt sie. »Was sollen wir nur ohne sie machen?«

* * *

Im Krankenhaus sagen sie uns, Oma hätte nachts einen Blutpfropf in der Lunge gehabt und sei innerhalb weniger Minuten gestorben. So etwas kann nach einer Operation passieren, besonders bei älteren Patienten. Die Blutgefäße sind der hohen Beanspruchung nicht gewachsen. Fast alle älteren Leute bekommen blutverdünnende Mittel, ehe sie operiert werden, um genau das zu verhindern, aber nicht bei allen hilft es. So ein Pfropf kann trotzdem entstehen, und wenn dem so ist, kann man kaum etwas dagegen tun. Auch wenn man kurz vorher noch ein paar Schritte gegangen ist und von einem attraktiven Arzt gelobt wurde und Zimtschnecken gegessen hat. Trotzdem kann man sterben. Unfassbar, aber leider wahr.

* * *

Was sollen wir nur ohne sie machen? Ich weiß es nicht, aber ich wünschte, ich könnte wenigstens weinen. Ich liege im Bett, starre an die Decke und wünschte, ich könnte weinen, aber das kann ich nicht. Warum nicht? Bin ich gestört? Meine Oma ist tot, Grund genug, zu weinen, aber offensichtlich habe ich verlernt, wie man traurig ist. Wie immer man so etwas verlernen kann.

Ich stelle mir besonders traurige Situationen vor, um den Prozess in Gang zu bringen. Stimuliere jede noch so kleine Trauerzelle in meinem Körper. Gehe im Geiste alles durch, was sie nie wieder, was ich nie wieder, was wir nie wieder zusammen tun werden, verharre bei jeder Erinnerung, um zu sehen, ob nicht doch ein paar Tränen kommen.



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