Alle Weihnachtsbäume meines Lebens by Lise Gast

Alle Weihnachtsbäume meines Lebens by Lise Gast

Autor:Lise Gast [Gast, Lise]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Saga
veröffentlicht: 2016-04-14T00:00:00+00:00


Ein Kinderlied, einfach in der Melodie, aber polyphon gesetzt. Die anderen fielen ein, halblaut und vorsichtig wie das erste Mädchen, dann sich zueinander findend, immer unbefangener und heller. Und nun folgte ein Lied auf das andere.

Maria durch ein Dornwald ging ...“

„Und unser lieben frauen der traumete ein traum ...“ „Ja, jetzt müßten wir eigentlich noch die Weihnachtsgeschichte lesen, aber eine Bibel hat wohl keiner mit“, sagte in einer kleinen Pause einer der jungen Männer, „vielleicht aber bekommen wir sie doch zusammen? Es begab sich aber zu der Zeit ...“

Sie bekamen sie zusammen. Wenn einer stockte, half ein anderer weiter, die Worte lagen in ihren Herzen bereit, ob sie es bis dahin gewußt hatten oder nicht. Christine brauchte kein einziges Mal zu helfen. Dann sangen sie noch, wie auf Verabredung, das älteste aller Lieder, das einmal einem Mönch eingefallen war, als er eine Christrose im Schnee fand, vor Jahrhunderten, in Trier. „Es ist ein Reis entsprungen, aus einer Wurzel zart.“

Dieser Weihnachtsbaum, dieser Weihnachtsabend – Christine vergaß sie nie.

Ach ja, Weihnachten mit den Kindern. Sie nannte sie im Herzen immer noch so, obwohl sie längst erwachsen waren. Jahrelang war es nun schon so, daß sie ihr den Baum besorgten, ihn schmückten, die Klingel ertönen ließen. Dieses Jahr nicht. Dieses Jahr würde sie am Heiligen Abend allein sein mit dem Baum, und erst im Laufe der Feiertage würden die Kinder kommen, die Kinder und die Enkel.

Es war dämmerig geworden, sie hatte sich länger aufgehalten, bei dem Auswählen des Baumes. Sie ging immer langsamer. Noch nie war sie allein gewesen am Weihnachtsabend, und diesmal – es senkte sich wie eine tiefe, alles Licht erstickende Dunkelheit auf sie – diesmal würde kein heiliger oder unheiliger Georg kommen, um den Drachen der Einsamkeit zu töten und sie aus dieser Dunkelheit ins Helle führen. Wie schön müßte es sein, mit dem geliebten Mann wieder allein zu feiern, jetzt, da die Kinder groß waren. Sie hatte sich das oft sehnsüchtig ausgemalt. Vielen Frauen war es beschieden, warum nicht ihr? Warum wurden solche Ehen wie die ihre so früh getrennt? Weil sie so besonders gut und innig gewesen war? Sie versuchte, die Bangigkeit vor dem dunklen und leeren Haus, das auf sie wartete, tapfer zu überwinden. War sie nicht reich, sich auf den kommenden Tag freuen zu können? Sie hatte doch ihren Baum. Sie würde Kerzen darauf stecken, das Bild ihres Mannes daneben stellen und dann den Bibeltext lesen, den er früher gelesen hatte, dankbar, so viele schöne Weihnachtsbäume erlebt zu haben. Und sicherlich riefen sie an, die Kinder, die nun groß waren und ihren eigenen Kindern den Baum schmückten, glücklich wie Georg und sie damals. Sie gönnte es ihnen, ach, sie gönnte ihnen das Glück von Herzen! Sie hatte ja ihren Christbaum. Er würde ihr das Symbol sein, daß sie zwar allein, aber doch nicht einsam war. Sie strich verstohlen über sein dunkelgrünes Nadelkleid. Nun sah sie schon ihr Haus. Und da wurden ihre Augen groß, während sie langsam weiterging, mit vorsichtigen, sozusagen ungläubigen Schritten.

Vor dem Haus stand ein Wagen, verschneite Kühlerhaube, Schnee auf Kotflügeln und Dach.



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