Alle meine Leben (German Edition) by Wylie Sarah

Alle meine Leben (German Edition) by Wylie Sarah

Autor:Wylie, Sarah [Wylie, Sarah]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: CBJ
veröffentlicht: 2014-08-31T22:00:00+00:00


18

Der Samstagmorgen beginnt mit dem Anblick meines Vaters, der über mir steht und mich wach rüttelt. Heute ist das zweite Vorsprechen.

Ich erkläre, dass ich lieber im Bett bleiben und mich von den Decken verschlucken lassen will. Er lacht und drückt meine Schulter. »Na, komm schon, Schlafmütze!«

Im Tiefschlaf tapse ich ins Badezimmer und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Wir benutzen eine andere Zahnpasta als Megaweiß, die Zahncreme, für die ich heute Werbung machen soll. Und weil ich nicht in einen Interessenskonflikt kommen will, beschließe ich, das Zähneputzen heute Morgen ganz ausfallen zu lassen.

Dank des Ponys ist der einzige sichtbare Hinweis auf meinen »Unfall« der Gipsverband an meinem linken Arm. Meine Mutter hat Brody Richardson die Sache erklärt, und er hat sich gnädigerweise bereit erklärt, ein gebrochenes Handgelenk in Kauf zu nehmen, weil es noch zwei Monate dauert, bis der Werbespot gedreht werden soll.

Ich gehe durch den Flur zu Jenas Zimmer. An der Tür, die weit offen steht, hängen schlaff die Fetzen der »Betreten verboten«-Zettel. Dem Totenschädel fehlen die Knochen.

Ich trete ein. Nichts rührt sich. Kein Laut ist zu hören. Obwohl die Tür offen ist, ist es viel zu warm im Zimmer. Es riecht nach Schweiß und Schmutzwäsche. Unter der Bettdecke ist eine Erhebung.

Schließlich dreht sie sich von der Wand weg zu mir hin. Ich fange wieder an zu atmen. »Wo gehst du hin?«, fragt sie.

Ich kann nur ihr Gesicht sehen. Der Rest von ihr liegt unter der Decke.

»Zum Vorsprechen.«

»Viel Glück«, sagt sie. Ich nicke und halte mich am Türgriff fest. Ich will ihn heranziehen, um die Tür zu schließen, aber ich bin wie erstarrt.

Irgendetwas stimmt nicht.

»Bis später«, sagt sie. Damit will sie mir sagen, dass alles in Ordnung ist.

Ich mache die Tür zu.

»Ach, da bist du!«, ruft mir mein Vater vom Fuß der Treppe aus zu. »Ich habe dir Kaffee gekocht.«

»Kaffee macht fleckige Zähne«, sage ich. »Handelst du etwa im Auftrag der Konkurrenz und willst mich sabotieren?«

Mein Vater lacht und zwinkert mir zu. »Verrate es nicht deiner Mutter.« Ich nehme ihm die Kaffeetasse aus der Hand und hebe sie an meine Lippen.

»Wo ist sie überhaupt?«, frage ich. »Mom, meine ich.«

Er schaut zur Treppe hoch. »Sie schläft. Bist du fertig?«

Meine Fingerspitzen kribbeln und mein Herz muss niesen. Mein Vater benimmt sich angemessen begeistert, während wir gemeinsam zur Garage gehen und ins Auto einsteigen, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt. Es ist Samstag, neun Uhr morgens. Meine Mutter wäre längst wach, es sei denn, sie hätte ein Schlafmittel genommen.

Vielleicht hat sie das.

Ich quetsche mich ins Auto und versuche, mein Gehirn auszuschalten – die Ängste, die Sorgen, die Gedanken. Ich lösche alles aus.

Mein Vater macht keine Anstalten, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Er legt eine CD ein, den Soundtrack von Das Phantom der Oper. Vermutlich hat meine Mutter sie hier im Auto vergessen. Seine Finger trommeln auf das Lenkrad, während er durch die Windschutzscheibe in die Ferne starrt, in eine Dunkelheit, die ich nicht sehen kann.

»Stimmt etwas nicht?«, frage ich.

»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.« Er schenkt mir ein müdes Lächeln.



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