Afterdark by Haruki Murakami

Afterdark by Haruki Murakami

Autor:Haruki Murakami [Murakami, Haruki]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3832179402
Herausgeber: Dumont Verlag


10

03:25 Uhr

Eri Asai schläft noch immer.

Aber der Mann ohne Gesicht, der gerade noch auf dem Stuhl neben ihr saß und Eris Gesicht so anhaltend betrachtet hat, ist nicht mehr da. Auch der Stuhl ist verschwunden, als wäre er nie dort gewesen. So wirkt das Zimmer noch kahler als zuvor, noch verlassener. In der Mitte steht das Bett mit Eri. Sie sieht aus wie ein Mensch, der in einem Rettungsboot auf einem ruhigen Ozean dahintreibt. Wir beobachten diese Szene von unserer Seite aus, aus Eris realem Zimmer, über den Fernsehschirm. Die Kamera, die sich anscheinend in dem Zimmer auf der anderen Seite befindet, nimmt Eris schlafende Gestalt auf und überträgt sie auf unsere. Sie verändert regelmäßig ihren Standort und ihren Winkel. Sie geht ein bisschen näher heran, dann wieder etwas zurück.

Zeit vergeht, aber nichts geschieht. Eri bewegt sich nicht. Kein Laut ertönt. Sie treibt, mit dem Gesicht nach oben, auf einem Meer der reinen Gedanken, ohne Wellen und ohne Strömung. Dennoch können wir den Blick nicht von dem Bild abwenden, das uns da gesendet wird. Warum nur? Wir verstehen es nicht. Doch wir haben eine gewisse Ahnung und spüren, dass dort etwas ist. Dort ist etwas. Ohne ein Anzeichen von sich preiszugeben, verbirgt es sich unter der Wasseroberfläche. Wir schauen aufmerksam auf den reglosen Bildschirm, um zu ergründen, ob es da etwas gibt, das sich unseren Blicken entzieht.

Da! Eri Asais Mundwinkel scheinen sich ganz leicht bewegt zu haben. Nein, eine Bewegung kann man es eigentlich nicht nennen, ein kaum merkliches Zucken vielleicht. Vielleicht hat auch nur der Bildschirm geflimmert. Oder es war eine optische Täuschung. Möglicherweise führt auch unser zwanghaftes Suchen nach irgendeiner Veränderung zu Halluzinationen. Um uns zu vergewissern, strengen wir unsere Augen noch mehr an.

Die Linse der Kamera nähert sich ihrem Objekt, als wolle sie unseren Willen aufsaugen. Eris Mundwinkel heben sich. Mit angehaltenem Atem starren wir auf den Bildschirm. Geduldig warten wir, was als Nächstes geschieht. Wieder ein Zittern der Lippen. Eine flüchtige Muskelanspannung. Genau die gleiche Bewegung wie vorhin. Kein Zweifel, es ist keine optische Täuschung. Mit Eri Asai geschieht etwas.

Allmählich genügt es uns nicht mehr, passiv von unserer Seite aus auf den Bildschirm zu schauen. Wir wollen das Innere jenes Zimmers unmittelbar mit eigenen Augen sehen. Wir wollen Eris leichte Bewegungen, die vielleicht auf eine Bewusstseinsregung hindeuten, aus größerer Nähe in Augenschein nehmen, konkreter versuchen, deren Bedeutung zu ergründen. Spontan beschließen wir, auf die andere Seite des Bildschirms hinüberzuwechseln.

Da wir fest entschlossen sind, ist das nicht so schwer. Wir können uns aus unserem Körper lösen, ihn zurücklassen und zu einem ideellen Blickpunkt ohne Materie werden. Dies ermöglicht es uns, jede Mauer zu durchqueren und die tiefsten Abgründe zu überfliegen. Wir werden (praktisch) zu einem reinen Punkt und durchdringen den Fernsehschirm, der die beiden Welten trennt. Wir wechseln von dieser auf jene Seite über. Bei unserer Reise durch Mauern und über Abgründe verzerrt sich die Welt, reißt auf, bricht und löst sich völlig auf. Alles verwandelt sich in puren, feinkörnigen Staub und zerstiebt in alle vier Richtungen, kurz darauf formiert sich wieder eine Welt.



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