Ach waer ich nur zu Hause geblieben by Kerstin Gier

Ach waer ich nur zu Hause geblieben by Kerstin Gier

Autor:Kerstin Gier
Die sprache: de
Format: mobi
Herausgeber: Verlagsgruppe Luebbe GmbH Co KG
veröffentlicht: 2011-11-03T23:00:00+00:00


Holykuhphobie

oder die Angst vor Erleuchtung

Wegen meiner profunden Ängste habe ich noch nicht wirklich viel von der Welt gesehen. Und wenn, dann immer nur aus Versehen oder weil ich es nicht besser wusste.

Noch nie war ich in einem Land, in dem man Wasser abgekocht zu sich nehmen sollte oder als Frau nur verschleiert in der Öffentlichkeit herumlaufen darf. Länder, in denen man das Hotel nur in bewaffneter Begleitung verlassen und Bargeld in der Unterhose verstecken sollte, habe ich ebenso gemieden wie solche, in denen Insekten lästige Krankheiten übertragen. Die Mückenstiche, die meine Freundin Vivi vor acht Jahren aus ihrem Thailand-Urlaub mitgebracht hat, jucken heute noch wie am ersten Tag. (Und wenn du mich fragst, sind das auch gar keine Mückenstiche, Herzchen. Irgendwann werden sie aufbrechen, und winzig kleine Spinnen werden herauskrabbeln …)

Für mich ist es auch eine schreckliche Vorstellung, ein Land zu bereisen, in welchem sich einem die bettelnden Hände von mageren Kindern entgegenstrecken, sobald man den klimatisierten Reisebus verlässt.

»Dadurch, dass du da nicht hinfährst, geht es den Kindern aber auch nicht besser«, sagt Insa, die heuer eine Reise nach Indien organisiert. Im Gegenteil, sagt Insa, ich würde die Kinder dort sogar sehr glücklich machen, wenn ich käme und ihnen ein paar von den Kugelschreibern schenken würde, die Insa für die Mitglieder der Reisegruppe im Großhandel besorgt hat, zu umgerechnet zwei Cent das Stück. Auch über alte T-Shirts würden sie sich dort sehr freuen.

»Und am allermeisten freuen sie sich über ein Lächeln«, behauptet Insa.

Genau genommen ist ihre vierzehntägige Indienreise somit gar keine Vergnügungsreise, sondern ein einziger Akt der Nächstenliebe und Entwicklungshilfe. Dank der Kugelschreiber werden die Kinder keine Analphabeten, die alten T-Shirts schützen sie in rauen Winternächten, das Lächeln wärmt ein Leben lang ihre Herzen. Eine Benefizreise also, bei der man nebenher auch noch das Tadsch Mahal besichtigen und günstig gefakte Prada-Handtaschen einkaufen kann.

Indien ist ein wunderschönes, kulturell hochinteressantes Land, und eigentlich würde es mich schon sehr reizen, es einmal zu besuchen. Ich fürchte mich aber auch vor heiligen Kühen, abgemagert bis auf das Skelett, die vor dem Bus auf der Suche nach einem Schluck Wasser herumtorkeln, und vor kranken Menschen am Straßenrand, obwohl Insa versichert, dass man auch diese Unglücklichen mit ein paar Kugelschreibern und alten T-Shirts glücklich machen könne.

Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Kühe eins von Insas fliederfarbenen T-Shirts fressen und muss weinen.

»In Indien hat Glück ohnehin eine ganz andere Bedeutung«, sagt Insa. »Wir Abendländer können von den Indern so viel lernen. Man wird dort ein ganz anderer Mensch, quasi wiedergeboren durch die Konfrontation mit einer anderen Kultur und Denkweise. Verwöhnt, oberflächlich und mit engem Horizont fährt man hin, und erleuchtet kehrt man nach Hause zurück.«

Erleuchtung – das hört sich allerdings wunderbar an. Was habe ich nicht schon alles auf mich genommen, um mein Bewusstsein zu erweitern, und jetzt serviert Insa mir die Erleuchtung quasi auf dem Tablett für nur eintausendsechshundertfünfzig Euro.

Fast hat sie mich soweit, über meinen Schatten zu springen. Aber dann fällt mir glücklicherweise wieder ein, was ich noch mehr fürchte als den Anblick abgemagerter



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