617 Grad Celsius by Horst Eckert

617 Grad Celsius by Horst Eckert

Autor:Horst Eckert [Horst Eckert]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Kriminalroman
ISBN: 9783894258337
Herausgeber: Grafit Verlag
veröffentlicht: 2012-08-26T07:36:59+00:00


36.

Mai 2005

Zehn Minuten nach sechs riss sie der Radiowecker aus dem Schlaf. Zuerst glaubte Anna an einen Traum. Ausgerechnet Fleetwood Mac krächzte aus dem kleinen Lautsprecher.

Ihr Vater stand schon wieder am Küchenherd. Eier mit Schinkenspeck. Anna öffnete die Terrassentür, um den Dunst abziehen zu lassen. Sie musste sich festhalten, denn ihr war schwindlig – sie hatte das Schlafmittel am Vorabend zu hoch dosiert.

Picasso wetzte auf den Rasen hinaus, Tauben jagend, die er nie erwischte. Der Himmel gab zögernd sein Licht ab, ringsum in den Gärten herrschte reges Gezwitscher.

Vater trat neben sie und atmete tief ein. »Champagnerluft!«

»Das hast du von Karin, stimmt’s?«

»Was?«

»Das Wort. Champagnerluft.«

»Wie kommst du darauf?«

»Mama hat mir ihr Tagebuch gegeben. Sie schreibt, dass du mit Karin ein Verhältnis hattest. Ist das wahr?«

»Johanna hat Tagebuch geführt?«

»Weiß Michael von der Affäre?«

Ihr Vater schüttelte den Kopf und Anna war nicht klar, ob es eine Antwort sein sollte oder ein Kommentar darauf, dass seine Frau ihr Leben in Auszügen aufgezeichnet hatte.

Anna ging ins Haus und griff nach der Zeitung, die auf dem Küchentisch lag. Die Morgenpost titelte: NACH EXPLOSION ZAHL DER TOTEN AUF ACHT GESTIEGEN. WER ÖFFNETE DAS GASVENTIL?

Die Buchstaben verschwammen, das Blatt in ihrer Hand zitterte. Sie legte es rasch zurück.

Ihr Vater stellte die zwei Portionen Spiegelei auf den Tisch und goss Kaffee ein.

»Wieso bist du schon so früh auf den Beinen?«, wollte Anna wissen.

»Wahlkampf. Termine im Wahlkreis.«

»Überanstreng dich nicht.«

»Hör auf, Anna. Du hast selbst gesagt, ich bin kein alter Mann.«

»Allein die weite Strecke im Berufsverkehr.«

»Sven wird mich fahren.«

»Warum muss dein Wahlkreis im Ruhrgebiet liegen und nicht hier im Kreis Neuss oder in Düsseldorf?«

»Ich stamme von dort. Du weißt, dass die Leute so etwas schätzen. Wetten, dass ich bei den Erststimmen keine Einbußen davontragen werde?«

»Es ist ja nur, weil du einen Infarkt hattest. Du solltest das Warnsignal beherzigen.«

»Ich will jetzt nichts mehr davon hören.«

Eine Weile spachtelte der Abgeordnete still sein Frühstück. Dann sagte er: »Michael hatte keine Ahnung. Und ich möchte, dass das so bleibt. Die Geschichte mit Karin war nur eine …« Er suchte nach dem richtigen Wort.

Anna fragte: »Was hattet ihr bei Odenthals Vernehmung zu suchen, Michael und du?«

»Warum misstraust du mir plötzlich?«

»Hast du Odenthal zum Geständnis genötigt?«

»Du wirst allmählich wie deine Mutter.«

Er aß weiter. Anna stand auf. Wieder musste sie sich festhalten. Nur ein Rest von Noctumed in ihren Adern – nichts weiter.

»Was ist los?«, fragte er. »Keinen Appetit?«

»Sag, was habt ihr mit Odenthal gemacht?«

»Nichts.«

»Ich weiß nicht mehr, was ich dir glauben kann.«

»Hör zu, Anna, ich hab’s für Michael getan. Er hat gelitten wie ein Hund. Er hielt es nicht aus, dass der Mörder seines Sohnes die ganze Zeit leugnete. Michael brauchte Gewissheit, verstehst du?«

»Und dann habt ihr den Verdächtigen so lange bearbeitet, bis er alles zugab, was ihr hören wolltet.«

»Wir haben keine Gewalt angewandt, wenn du das meinst.«

Anna musste sich setzen.

Karins Aussage war falsch gewesen, das Geständnis ebenfalls. Damit stand und fiel das Urteil mit dem Alibi. Odenthals Mitbewohner hatte es widerrufen – nachdem sie, Anna, den pädophilen Lehrer bearbeitet hatte, bis er zugab, was sie hören wollte.

Ihr war, als würde sie in einen Abgrund fallen.



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