'45: Die Welt am Wendepunkt (German Edition) by Ian Buruma

'45: Die Welt am Wendepunkt (German Edition) by Ian Buruma

Autor:Ian Buruma [Buruma, Ian]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783446248557
Herausgeber: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2015-03-14T16:00:00+00:00


Vor drei Wochen sind die ersten Maßnahmen gegen Parteigenossen erlassen worden. Entfernung aller Nazis aus führenden Stellen des Industrie- und Wirtschaftslebens. Ausschließung der Parteigenossen von kultureller Tätigkeit. Ehemalige Mitglieder der NSDAP dürfen in Betrieben nur noch als Arbeiter beschäftigt werden.10

Andreas-Friedrich begrüßte die Idee, ehemalige Nazis zum Schutträumen und für andere niedere Arbeiten einzusetzen. Aber ihre Sichtweise war, wie es scheint, eine ungewöhnliche. Sie hielt fest, was sie die Menschen in ihrer Umgebung sagen hörte: »Unerhört, dieser Terror! Haarsträubend, die neue Ungerechtigkeit. Man kann doch nicht zwanzig Prozent des Volkes unter Ausnahmegesetz stellen.« Worauf sie, in ihrem privaten Tagebuch, die Antwort gibt: »Man kann! Haben sie [die Deutschen] vergessen, wie gut man es kann? Ist es ihnen entfallen, dass diese Ausnahmegesetze fast wörtlich den gleichen Inhalt trugen wie acht Jahre zuvor die Ausnahmegesetze gegen die Juden?«11

Sie hatte keinerlei Verständnis für die protestierenden Deutschen. Aber die Parallele, die sie zog, war Teil des Problems. In einem faschistischen Regime Menschen aus der Gesellschaft auszuschließen ist eines; dasselbe zu tun, um eine Demokratie wiederherzustellen, ist ein unvergleichlich heikleres Unterfangen. Abgesehen davon bedeutete das schlichte Eingeständnis einer Parteimitgliedschaft nicht sehr viel. An die hundertvierzigtausend Menschen verloren ihren Arbeitsplatz, aber es waren viele kleine Beamte und Opportunisten darunter, die der Partei aus Angst oder Ehrgeiz beigetreten waren, während prominentere Personen, die mehr Schuld auf sich geladen hatten, ungeschoren blieben: die Unternehmer zum Beispiel, die sich nicht die Mühe gemacht hatten, Parteimitglied zu werden, aber mit geraubtem jüdischem Vermögen Millionen verdienten; die Bankiers, die Zahngold von ermordeten Juden horteten; die Professoren, die haarsträubende Rassenlehren verbreiteten; die Anwälte und Richter, die sich penibel an die Verordnungen der NS-Diktatur hielten und Menschen wegen umstürzlerischer Aktivitäten oder »Rassenschande« mit einem Angehörigen einer »minderwertigen Rasse« verurteilten.

Theodor Heuss war vor dem Krieg liberaler Journalist und Politiker gewesen, und auch wenn er nicht aktiv Widerstand geleistet hatte, waren ihm die Nazis verhasst. Er war einer der Deutschen, denen die Alliierten trauen zu können glaubten. 1945 ernannten ihn die Amerikaner zum Kultusminister Baden-Württembergs, und in dieser Funktion war eines seiner Probleme der Mangel an fähigen Lehrern, die gebraucht wurden, um die Jugend von zwölf Jahren Nazipropaganda zu entwöhnen. Die Entnazifizierung, wie sie praktiziert wurde, bedeutete eine zusätzliche Erschwernis für ihn. In einem verzweifelten Brief an die Militärverwaltung schrieb er, seiner Ansicht nach seien nur zehn bis fünfzehn Prozent der aus dem Staatsdienst Entlassenen überzeugte Nazis gewesen. Es seien aber so viele Lehrer entnazifiziert worden, dass viele Kinder keinen Unterricht mehr bekämen. Es sei doch nicht so schwer, bei älteren Lehrern, die noch in der Weimarer Republik studiert hatten, »den braunen Anstrich abzukratzen« und »die Kräfte des Guten in ihnen wiederzuerwecken«. Er bat die Behörden um ihr Vertrauen: »Wir versprechen, die Lehrer vom Nazismus zu befreien und sie zu Mittlern eines neuen und besseren Denkens zu machen, damit sie die Jugend im rechten Geist unterrichten können.«12 Er wurde abgewiesen.

Carl Zuckmayer, der aus seinem amerikanischen Exil zurückkehrte, um im Auftrag des US-Kriegsministeriums seinen Deutschlandbericht zu verfassen, fand die Säuberungen der Amerikaner so unbeholfen und so oft



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