30 - Das unvollendete Bildnis by Agatha Christie

30 - Das unvollendete Bildnis by Agatha Christie

Autor:Agatha Christie [Christie, Agatha]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-04-02T20:18:36+00:00


10

Milde Frühlingsluft drang durch das offene Fenster in Angela Warrens Wohnung, die auf den Regent Park ging; ohne den Straßenlärm hätte man glauben können, auf dem Land zu sein.

Poirot wandte sich vom Fenster ab, als die Tür geöffnet wurde und Angela Warren eintrat.

Er sah sie nicht zum ersten Mal; er hatte vor kurzem einen Vortrag gehört, den sie in der Geographischen Gesellschaft gehalten hatte. Sie war eine gut aussehende Frau mit gleichmäßigen, wenn auch strengen Zügen, schönen dunklen Brauen, klaren, gescheiten braunen Augen und einer zarten weißen Haut; ihre Schultern waren breit und ihr Gang etwas männlich.

Sie erinnerte keineswegs an ein Schweinchen, das «o weh, o weh», schreit, obwohl sie auf einem Auge blind war und eine lange, breite Narbe ihre rechte Wange entstellte. Sie schien im Laufe der Zeit ihre Entstellung gewissermaßen vergessen zu haben, und Poirot hielt es für möglich, dass sie gerade durch diese Benachteiligung an geistiger Kraft gewonnen hatte.

Aus dem wilden Schulmädchen war eine bemerkenswerte Frau geworden, eine Frau mit hohen geistigen Gaben und der Energie, große Taten zu vollbringen. Er war sicher, dass sie sowohl glücklich wie erfolgreich war, ihr Leben war bestimmt ausgefüllt und sehr interessant.

Sie war nicht der Typ Frau, den Poirot liebte. So sehr ihm ihr klarer Geist imponierte, fand er sie doch zu wenig fraulich.

Es war leicht, ihr den Zweck seines Besuches zu erklären, und er benötigte keine Vorwände. Er erzählte ihr einfach, was Carla Lemarchant von ihm wollte.

Angelas strenges Gesicht leuchtete auf.

«Ah, die kleine Carla! Sie ist hier? Ich würde sie gern sehen.»

«Stehen Sie nicht in Verbindung mit ihr?»

«Leider nur sehr oberflächlich. Als sie nach Kanada ging, war ich noch auf der Schule, und ich glaubte natürlich, dass sie uns bald vergessen würde. In späteren Jahren schickten wir uns gelegentlich Weihnachtsgeschenke. Ich glaubte, sie wäre in Kanada heimisch geworden, und fand, dass das für sie das Beste sei.»

«Bestimmt. Der Namenswechsel… der Ortswechsel. Ein neues Leben. Aber leider war das nicht so leicht.»

Und dann erzählte er ihr von Carlas Verlobung, davon, wie sie die Wahrheit erfahren hatte, und von ihrem Entschluss.

Angela hörte ruhig zu, die entstellte Wange auf ihre Hand gestützt. Sie zeigte keinerlei Erregung, und als Poirot fertig war, sagte sie ruhig:

«Carla hat Recht.»

Poirot war erstaunt. Sie war die erste, die es so aufnahm.

«Sie geben ihr Recht, Miss Warren?»

«Ja, und ich wünsche ihr von Herzen Erfolg. Ich werde alles tun, um ihr zu helfen, und ich mache mir jetzt Vorwürfe, dass ich selbst in dieser Hinsicht nichts unternommen habe.»

«Sie glauben also, dass sie mit ihrer Ansicht Recht haben könnte?»

«Natürlich hat sie Recht!», antwortete Angela energisch. «Caroline ist unschuldig, und ich habe es gewusst.»

«Sie überraschen mich sehr, Mademoiselle», murmelte Poirot, «alle andern, die ich bisher sprach…»

Scharf unterbrach sie ihn:

«Darauf dürfen Sie nichts geben. Gewiss hat der Schein gegen Caroline gesprochen, aber meine Überzeugung beruht darauf, dass ich meine Schwester genau kannte. Ich weiß genau, dass Caroline keinen Mord begehen konnte.»

«Kann man das von einem Menschen mit Sicherheit sagen?»

«In den meisten Fällen wahrscheinlich nicht. Ich gebe zu, dass die menschliche Bestie voller unberechenbarer Faktoren ist.



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