28 Tage lang (German Edition) by David Safier

28 Tage lang (German Edition) by David Safier

Autor:David Safier [Safier, David]
Die sprache: deu
Format: mobi
Tags: Roman
ISBN: 9783644312418
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2014-03-13T23:00:00+00:00


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30

Es war ein wunderschöner Morgen.

Es war ein schrecklicher Morgen.

Zehntausende von Juden mussten im warmen Licht der Septembersonne auf der Miła-Straße zu den Toren schreiten, die die Deutschen aufgebaut hatten. Langsam, ganz langsam ging es voran, denn an den Toren standen die Nazis und die Besitzer der Werkstätten und entschieden anhand der Marken, wer in welche Richtung weitergehen durfte. Das eine Tor bedeutete den Tod, das andere das Leben.

Alle in diesem Menschenkessel waren paralysiert vor Angst. Auch die Juden mit den Marken. So weit kannten wir die Deutschen mittlerweile, dass wir wussten, dass sie ihre selbst aufgestellten Regeln ständig willkürlich brachen und eine von ihnen herausgegebene Marke noch lange keine Sicherheit bedeutete.

Auf den Bürgersteigen standen Letten, Ukrainer, Deutsche. Ab und an schlugen sie mit Knüppeln oder Peitschen auf Leute ein. Sie mussten nicht befürchten, dass sich irgendwer in dieser schrecklichen Prozession wehren würde, dafür waren all die Menschen, die sich hier versammelt hatten, viel zu verstört. Von den Toren her hörte ich einen Mann schreien: «Ich will nicht arbeiten! Ich hab gesagt, ich will nicht arbeiten!»

Das überraschte mich. Dieser Mann wollte freiwillig in die Züge?

«Ich gehe mit meinen Kindern!»

Dann hörte ich ihn nicht mehr. Vermutlich wurde ihm sein Wunsch erfüllt. Für die Nazis war er eben noch ein weiterer Jude, der vergast wurde. Mit seinen Kindern. Was soll’s?

Neben mir im Menschenkessel ging eine Frau und trug ein schlafendes Baby im Arm. Ich erkannte, dass sie eine der wertvollen Marken um den Hals trug, ihr Leben könnte gerettet werden. Das des Babys aber nicht. Die Frau merkte, dass ich sie anstarrte. Natürlich hatte auch sie den Mann gehört, der mit seinen Kindern ins Gas ging. Leise sagte sie zu mir: «Man kann immer ein neues Kind bekommen.»

Ich verstand erst nicht.

«Doch wenn ich mit dem Kind sterbe, kann ich kein neues Leben zur Welt bringen.»

Sie war bereit, sich von ihrem Baby zu trennen. Und sie hatte sich dafür Argumente zurechtgelegt. Argumente, die nach Leben und nicht nach Tod klangen.

Mir wurde schlecht.

Ich sah von ihr weg und blickte mich um, ob irgendwo Hannah, Mama oder Ruth in dem Menschenkessel zu sehen waren. Ich konnte sie nirgends entdecken. Gut. So konnte ich meine Hoffnung aufrecht halten, dass sie im Gegensatz zu mir überleben könnten. Irgendwie.

Nach meinem Bruder sah ich mich allerdings nicht um. Bestimmt war er bereits auf dem Weg zum Umschlagplatz. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Nazis jemanden ohne Marke am Leben lassen würden. Nur wenn es darum ging, Juden umzubringen, hielten sie sich an die von ihnen selbst aufgestellten Regeln.

Nach vielleicht zwei Stunden in diesem Kessel erreichte ich die Selektion. Als ich vor den SS-Mann trat, war ich nicht nervös, noch nicht mal ängstlich. Wie er entscheiden würde, wusste ich doch schon. Ich war ohne Hoffnung, fühlte mich benommen und bleischwer. Ich sah dem SS-Mann noch nicht mal ins Gesicht. Stumm bedeutete er mir mit einer kleinen Handbewegung, durch das Tor zu gehen, das den Tod bedeutete.

Während ich hindurchschlich, war die Frau, die ihr Kind abgeben wollte, an der Reihe. Der SS-Mann sah ihre Marke, sie durfte zu den Lebenden.



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