2012 - 10 - Im Bann der Loge by Oliver Fröhlich

2012 - 10 - Im Bann der Loge by Oliver Fröhlich

Autor:Oliver Fröhlich [Fröhlich, Oliver]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-01-10T05:00:00+00:00


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Yucatán, 1520

Der volle Mond schien auf die Gruppe von Männern herab und tauchte ihre Gesichter in bleiches Licht.

Diego de Landa ließ den Blick über die Kaziken der anderen Städte gleiten und versuchte, in ihnen zu lesen. Im besten Fall sah er Neugier, doch ihm schlug auch offene Feindseligkeit entgegen.

Er hatte damit gerechnet. Aber immerhin waren sie gekommen. Ein guter Anfang, wie er hoffte.

Natürlich waren nicht alle Kaziken erschienen. Die Tutul Xiu beispielsweise hatten dem Gesandten die rechte Hand abgeschlagen und ihn zurückgeschickt, um Diego de Landa zu zeigen, was sie von seiner Einladung hielten. Doch der weiße Maya-König hatte ohnehin erwartet, dass der Weg steinig werden würde.

Sie standen auf der Plattform der Tempelpyramide, dem Ort, an dem die Kraft des Visionsrings und die Reste von Ts’onots Lomob sich mit dem des neuen Chilam Hunagupach vereint hatten. Zwischen ihnen brannte ein niedriges Feuer und verströmte einen süßlichen, beißenden Geruch.

»Wir haben uns heute hier vor Ix Ch’up, der Göttin des Mondes, versammelt, um mit euch das schreckliche Wissen um die Zukunft der Welt zu teilen.«

Hunagupach trat zum Feuer und warf eine Handvoll gemahlener Kräuter und Samen in die Flammen. Die Orakelpriester der anderen Städte folgten seinem Vorbild, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Sie kannten die entsprechenden Rituale.

Aus einem Korb holte Diego de Landa ein Huhn, das sich nach Kräften, aber vergebens gegen das ihm bevorstehende Schicksal wehrte. Er hielt es über das Feuer.

Der Chilam zog ein Messer hervor und schlug dem Tier mit einer flüssigen Bewegung den Kopf ab. Blut sprudelte aus dem Halsrumpf in die Flammen und auf die versammelten Orakelpriester.

Diego de Landa warf das Huhn zurück in den Korb und streckte die beringte Hand über das Feuer. Hunagupach fasste ihn am Handgelenk, und auch die anderen Chilam griffen nach seinen Fingern oder berührten lediglich die Haut.

Bitte, flehte er die Götter an. Lasst es noch einmal geschehen!

Er schloss die Augen. Konzentrierte sich. Versuchte, die Bilder einer Vision heraufzuzwingen.

Nichts geschah.

Waren es zu viele Chilam? Vermochte er die Eingebung jeweils nur mit einem Menschen zu teilen? War das Lomob der restlichen Orakelpriester nicht stark genug? Hatte er das von Ts’onot aufgebraucht? Wollten die Götter nicht, dass alle Maya vom Ende der Welt erfuhren?

Was auch immer der Grund sein mochte, die Vision blieb aus.

Er fühlte die Hitze des Feuers an seinem Unterarm. Er fühlte die Berührung der anderen Männer. Er fühlte das Gewicht des klobigen Rings.

Ein sanfter Wind kam auf und strich über die Tempelpyramide. Er glitt über Diego de Landas Haar, streichelte sein Gesicht und trug ihn mit sich, als wäre der Kazike nicht mehr als eine Feder des geopferten Huhns.

Er fühlte sich leicht, beinahe gewichtslos. Obwohl er sich der Berührung der Orakelpriester noch immer bewusst war, schwebte er davon. Er verließ Ah Kin Pech, flog durch Raum und Zeit. Die Augen hielt er weiter geschlossen. Und doch sah er!

Schiffe, die ohne Segel durch das Meer pflügten. Kutschen, die ohne Pferde fuhren. Gebäude, höher als die höchste Pyramide. Menschen in fremdartiger Kleidung. Kästen, in denen sich Bilder bewegten und aus denen schrille Töne klangen.



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