1000 Jahre Habe Ich Gelebt: Eine Jugend Im Holocaust by Livia Bitton-Jackson
Autor:Livia Bitton-Jackson [Bitton-Jackson, Livia]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783825174521
Amazon: 3825174522
Herausgeber: Verlag Urachhaus
veröffentlicht: 2004-11-14T23:00:00+00:00
Luftknappheit bestimmt alles andere. Man folgt ein-
fach. Sitzt oder steht mit geöffnetem Mund und halb
geschlossenen Augen. Atmet nicht, sondern schnappt
in kurzen Abständen nach Luft. Sitzt oder steht nicht
aufrecht, sondern lehnt sich an den Körper neben einem.
Nimmt jede Spannung aus dem Körper. Denkt nicht.
Nimmt jede Spannung aus dem Gehirn.
Mami tropft der Schweià von der Stirn. Es gelingt
ihr nicht, ihn abzuwischen. Jemand sitzt ihr auf der
Schulter. Wieder und wieder fahre ich mit dem Saum
meines Kittels über ihr Gesicht. Sie schlieÃt die Augen.
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Und schläft, wie ich glaube. Doch dann merke ich mit
Schrecken, dass sie ohnmächtig ist. Was soll ich tun?
Auch viele andere werden ohnmächtig. Kalkweià sind
sie, haben die Augen geschlossen und den Mund weit
geöffnet. Sie liegen schweigend einer über dem anderen.
Die Frau, auf der Mami liegt, ist auch ohnmächtig
und toleriert jetzt geduldig den reglosen Körper auf
sich. Zuvor hat sie bei jeder von Mamis Bewegungen
gestöhnt und sie mit dem Knie oder El bogen gerammt.
Jetzt sind beide still und atmen nur noch schwer.
Als der Abend kommt, nimmt die Hitze sogar noch
zu. Lautes Gestöhne und Geächze erfül t die Dunkelheit.
Ich liege mittlerweile schweiÃgebadet inmitten eines
Menschenhaufens. Jemand liegt auf mir, leblos, nass
und schwer. Ich kann mich nicht rühren. Und habe
keine Ahnung, wo Mami ist. Wahrscheinlich nicht
weit weg. Vielleicht sogar im selben Haufen wie ich.
Genau weià ich es aber nicht.
Irgendwann mitten in der Nacht setzt sich der Zug
in Bewegung. Er nimmt Geschwindigkeit auf, und das
Rattern überdeckt das Gestöhne. Da geht es mir besser.
Die Bewegung des Zuges â das Bewusstsein, dass man
sich vorwärts bewegt â erzeugt Zuversicht. In der Be-
wegung steckt Leben. Hoffnung. Stillstehen hingegen
ist entsetzlich.
Der Zug fährt die ganze Nacht und den ganzen
nächsten Tag. Am zweiten Abend wird die Luft ein
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bisschen kühler. Anscheinend fahren wir Richtung
Norden. Das Atmen fällt leichter. Der fahrende Zug
bläst durch die Ritzen der Wände Luft ins Innere der
Waggons. Die meisten von uns erholen sich ein bisschen.
Auch Mami geht es besser. Sie besteht darauf, dass
ich ihren Platz einnehme und sie aufsteht. Aber sie
schafft es nicht. Den Tag und die folgende Nacht über
stehe und hocke ich abwechselnd.
Am Morgen des dritten Tages kommt der Zug zum
Stehen. Die Verschläge öffnen sich und kühle Luft
dringt in den Waggon. Benommen von Licht und Luft
versuchen wir uns langsam aufzurichten. Einige können
überhaupt nicht mehr aufstehen.
Männer in gestreiften Uniformen zerren uns wie
Strohpuppen aus dem Zug heraus. Ãber zwei Tage lang
hatten wir keinen Platz, keine Nahrung, kein Wasser
zum Trinken und so gut wie keine Luft zum Atmen.
Unsere GliedmaÃen sind verkrampft und unsere Lungen
und Hirne ausgetrocknet. Dass wir jetzt Platz haben
und uns bewegen können, ist einfach unbeschreiblich.
Ich taumle aus dem Waggon, und mein Blick fällt
auf das Stationsschild: AUSCHWITZ.
Hitler ist also doch nicht tot.
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Tätowiert
Auschwitz, 8. August 1944
Ein Motorrad donnert an
uns vorbei und wirbelt jede Menge Staub auf. Mami
kann vor lauter Erschöpfung kaum noch weiter. Die
Zugfahrt von Krakau hierher hat ihre Energie aufge-
braucht. Ihr Wille zum Leben ist gebrochen. Als wir
uns an der Rampe schwankend in Marschformation
aufstellen, scheint es, als wären ihr sämtliche unserer
simplen Ãberlebenstechniken abhanden gekommen.
Sie will im Waggon bleiben, bei denen, die nicht mehr
gehen können. Es ist ihr gleichgültig, was das für sie
bedeutet. Sie beharrt darauf, nicht mehr marschieren
zu können, und bettelt mich an, ich soll sie einfach
liegenlassen.
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