002 - Das Bücherschiff des Monsieur Perdu by Nina George

Autor:Nina George [George, Nina]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783426440674
Herausgeber: Knaur eBook
veröffentlicht: 2023-04-02T22:00:00+00:00

Aus: Große Enzyklopädie der Kleinen Gefühle . Handbuch für Buchhändlerinnen, Buchhändler und andere Literarische Pharmazeuten, Kapitel A.

Kapitel 19

A

ls er aus unruhigen Träumen erwachte, fand sich Jean Perdu zu einem zerknitterten Bär verwandelt. Als er mit Rückenschmerzen aus der Kojenhöhle tappte, hörte er das Summen von Gesprächen im Schiffsbauch, und da standen sie, Pauline, Ella und Max, und berieten Kunden. Ein ganzes Rudel. Dominique Bonvin quetschte einen Kaffee nach dem anderen. Und alle anderen fremden Leute waren in patschnasse Regenüberzüge gehüllt. Moment mal: Das waren aber seine Kunden und Kundinnen. In seinem Bücherschiff! Mit seinen Büchern!

Also so was.

Heiß aufwallende Eifersucht, und wäre er nicht noch so zerknautscht, hätte er womöglich jetzt den Fehler begangen, sich danebenzubenehmen, und seinen Gedanken erlaubt, sich in unnützes Gezeter zu verwandeln. Durchatmen, erst mal das Gesicht waschen, Kaffee, und wo war Theo überhaupt?

Theo, in seiner Schwimmweste, fegte hingebungsvoll das Oberdeck. Der abendliche Weltuntergang war aus seinem Gesicht verschwunden.

»Wir brauchen Wechselgeld, die Kartenmaschine hat kein WLAN , und könntest du mal zum Bäcker gehen?«, empfing ihn Pauline. »Und vorhin hat uns ein Kühlschrank gerammt.«

Und diese Piraten-Bagage auf seinem Schiff allein lassen?

»Kühlschrank?«

»Es kommt hier alles Mögliche vorbei, hast du das Unwetter völlig verschlafen? Treibgut. Telegrafenmasten, Bäume, Fässer, Flaschen, ein Kühlschrank, alles, was schwimmt, ich hab so was echt noch nicht gesehen.«

»Und was machen alle diese Leute hier?« Im Schiff standen sich sicher zwölf, fünfzehn Menschen im Weg.

»Ausflugsboot mit Filterschaden. Und der Kühlschrank hat ihnen ein Ruder zerrumst, frag mich nicht, welches. Sie müssen erst eine Taucherin kommen lassen, bevor sie weiterfahren. – Ah, Madame, Sie haben sich da ein feines Buch ausgesucht …«

Ausgesucht?! Seit wann rannte eine Kundin in eine Apotheke hinter den Tresen und schnappte sich selbst irgendwelche Medikamente? Das konnte zu schweren Verwerfungen führen!

Er holte tief Luft, um sich energisch einzumischen, als Pauline höflich ergänzte: »Sie wissen schon, dass das vor allem gegen Geburtstagsmelancholie hilft? Also wenn Sie nicht gerade Geburtstag haben oder es verschenken wollen zu einem Geburtstag von jemandem, der es hasst, Geburtstag zu haben, würde Ihnen unser… Literarischer Apotheker hier gern etwas empfehlen. Nicht wahr, Jean?«

Nicht wahr! Aber dann sah er es. In dem Fach direkt unter der Kasse. Seine drei Schulhefte, aufgeschlagen, und Pauline schielte nach unten, Kapitel G.

Sie hatte seine Notizen gelesen. Und schickte ihn jetzt wie einen Hiwi. Und überhaupt.

Es waren so viele Gefühle in ihm gleichzeitig und standen sich auch im Weg – Scham, dass jemand seine unfertigen Einträge in die Gefühlsenzyklopädie gelesen hatte, ohne ihn zu fragen. Erstaunen. Zorn. Ärger.

Und, winzig klein, wirklich nur nanogroß: Freude.

Ella legte ihre weiche Hand auf seinen Oberarm, gerade als Perdu tief Luft für ein energisches »Von wegen!« holen wollte.

Also quetschte er ein halb geschwindeltes »Mit Vergnügen« heraus und führte die Ausflüglerin ein wenig zur Seite, um sich mit ihr zu unterhalten und auf ihre individuelle, unerkannte Seelenmaladie hin zu untersuchen. Es sollte sich herausstellen, dass sie an »untiefen Gesprächen« litt, wie sie es ausdrückte – das war ihr vor allem auf dem Ausflugsschiff aufgefallen. »Niemand traut sich mehr, wirklich miteinander zu sprechen,

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