Zwei Handvoll Leben by Fuchs Katharina
Autor:Fuchs, Katharina [Fuchs, Katharina]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Droemer
veröffentlicht: 2019-04-14T22:00:00+00:00
Charlotte
»Ernst, was machen die Schweine?«, fragte Richard, ohne hinter seiner Zeitung hervorzuschauen.
Sein Schwiegersohn legte den Leipziger Anzeiger beiseite und schnitt sich ein Stück Butter ab. »Gut, gut! Ich habe heute früh bereits nach ihnen gesehen.« Mit groÃer Sorgfalt schmierte er die Butter auf eine Brotscheibe und wischte das Messer so lange an der harten Kante ab, bis auch nicht die kleinste Spur mehr an der Schneide blieb. Er schnitt sie längs, dann quer, sodass viele kleine Vierecke vor ihm auf dem Teller lagen. »Der Pole schreibt die Messergebnisse täglich an die Tafel. Ein Glücksfall, dass er des Lesens und Schreibens mächtig ist, was ja bei Gott keine Selbstverständlichkeit ist. Ich werde dir nachher meine ersten Auswertungen zeigen.«
Richard lieà jetzt auch seine Zeitung, die Chemnitzer Neue Presse, sinken: »Hoffentlich hält ihn das nicht von seiner Arbeit ab.«
»Genau das ist seine Arbeit.«
»So, so. Na, ich bin gespannt, ob sich der ganze Aufwand lohnt«, knurrte Richard und runzelte die Stirn.
Ernst trank einen Schluck Kaffee, aà ein Viereck, dann nahm er den nächsten Schluck und noch ein Viereck, und sein Gesicht verschwand wieder hinter der Zeitung. Er wechselte einfach das Thema: »Von Jagow wird nun wegen Hochverrats angeklagt. Man fragt sich ja wirklich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn der Kapp-Putsch Erfolg gehabt hätte.«
»Und dann?«, fragte Richard sofort zurück. »Hätte das Freikorps gesiegt, das es nach den Versailler Verträgen gar nicht mehr geben dürfte. Wie hätte Deutschland dann dagestanden?«
Charlotte seufzte laut, wandte die Augen von ihrem Vater zu ihrem Ehemann, die jeweils an den Tischenden im Speisezimmer saÃen. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass die beiden sich über ihren Kopf hinweg unterhielten. Sobald Ernst an drei Tagen in der Woche am gemeinsamen Tisch Platz nahm, schien ihr Vater die weiblichen Familienmitglieder gar nicht mehr wahrzunehmen. Lisbeth und Wilhelmine nahmen es klaglos hin und aÃen schweigend ihr Frühstücksbrot. Charlotte rollte die Augen Richtung Decke und schaute betont gelangweilt aus dem Fenster in den Obstgarten, wo der Herbstwind das gelbe Laub vor sich hertrieb. Sie hoffte, dass Ernst endlich einmal Notiz von ihr nahm.
»Nun, die Begrenzung des deutschen Heeres auf hunderttausend Mann lässt Deutschland in der Welt auch nicht mehr glänzen«, erklärte dieser gerade mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wen wundert es denn, wenn mit einem Mal dreihunderttausend Soldaten freigesetzt werden, dass die einstigen stolzen Kämpfer auf die StraÃe gehen?«
Er trank seinen Milchkaffee aus, tupfte sich mit der Spitze seiner Damastserviette den Mund ab und spreizte dabei den kleinen Finger in die Luft. Was für eine betuliche Geste, dachte Charlotte, als sie ihn beobachtete. Jetzt hielt er die schlichte weiÃe Tasse hoch und studierte die Unterseite.
»Wo ist eigentlich das Meissner Porzellan mit dem Hofdrachen, von dem wir bei unserer Hochzeit gegessen haben?«, fragte er unvermittelt.
Wilhelmine, die gerade ein wenig eingenickt war, hob abrupt den Kopf.
»Das holen wir nur für besondere Anlässe heraus«, erklärte Lisbeth ihrem Schwiegersohn mit dem geduldigen Tonfall, mit dem man einem unwissenden Kind eine Selbstverständlichkeit erklärt.
»Ich fände es durchaus angemessen, es auch am Wochenende zu benutzen«, meinte Ernst.
»In der Landwirtschaft gibt es kein Wochenende«, brummte Richard.
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