Zartbitter ist das Glück by Østby Anne

Zartbitter ist das Glück by Østby Anne

Autor:Østby, Anne [Østby, Anne]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Wunderraum
veröffentlicht: 2017-08-28T00:00:00+00:00


29

Lisbeth

»Das ist widerlich«, sagt Lisbeth schaudernd und zündet sich eine Zigarette an. »Krank, ganz einfach! Was für ein Schwein macht denn so was?«

Die Überschriften sind fast jeden Tag in der Zeitung zu finden, meistens weit hinten, unten auf einer Seite versteckt: »Großvater nach Vergewaltigung des Enkelkindes zu 18 Monaten verurteilt«, »Zehn Jahre alte Tochter missbraucht«, »Baby vergewaltigt, 39-Jähriger festgenommen«.

»Ich fasse es nicht. Aber das passiert wohl überall auf der Welt«, seufzt sie und bläst den Rauch aus.

»Hm.« Kat sieht sie nachdenklich an. »Das ist wohl so. Aber die Statistik hier im Stillen Ozean ist überdurchschnittlich schlimm. Angeblich wird im Laufe ihres Lebens jede dritte Frau auf der Welt Vergewaltigung oder Misshandlung erleben. Im Pazifikgebiet sind es drei von fünf.«

»Ach du meine Güte, wieso denn?« Lisbeth runzelt die Stirn. »Ich dachte, die Kultur hier lege Wert darauf, dass man … die Angehörigen beschützt, sozusagen?«

»Das schon.« Kat überlegt. »Aber ›Kultur‹ ist ein Wort, hinter dem sich ganz schön viel Dreck verstecken kann. Es ist ›Kultur‹, sich an Frauen zu bedienen, bis hinunter zu kleinen Mädchen. Und Vergewaltigungen und Übergriffe werden so gut wie nie angezeigt.«

»Warum nicht?«

»Weil der Täter in der Regel ein Familienmitglied ist. Die Kinder hier sind umgeben von großen Brüdern und Onkeln und Vettern und Großeltern, die bei ihnen zu Hause aus und ein gehen, das sind Menschen, mit denen sie aufwachsen. Wenn ein Mädchen also von einem Onkel vergewaltigt wird, den sie schon ihr Leben lang kennt, wie leicht ist es dann für sie, damit zur Polizei zu gehen? Es würde Konsequenzen für die ganze Sippe haben, vermutlich für das ganze Dorf. Also halten sie lieber den Mund.«

»Das ist ja wohl nicht nur hier so.«

Sinas Stimme klingt messerscharf. Lisbeth schaut sie fragend an. Normalerweise mischt sich keine von ihnen in das ein, was Lisbeth in Gedanken die Vorlesungen in Vale nei Kat nennt, in der Regel reden Kat und Ingrid und ab und zu Maya. Aber nun sind aller Augen auf Sina gerichtet.

»Dass Männer ihn nicht in der Hose behalten können, ist doch nichts Neues. So war es immer schon.«

Etwas Fremdes und Wehes liegt unter diesen schroffen Worten. Lisbeth starrt sie an, aber Sina erwidert ihren Blick nicht. Eine plötzliche Stille über der Veranda. Der Sessel knirscht, als Sina sich vorbeugt und nach Lisbeths Zigaretten greift. »Und wir vertrauen ihnen ja trotzdem, oder? Das ist nichts, was nur für Fidschi gilt.«

Lisbeth lässt sich zurücksinken, sieht, dass die Hand, die das Streichholz anreißt, ein wenig zittert.

»Was mich so wütend macht«, Sinas Stimme ist jetzt ruhiger, »ist, wenn sie sagen, wir sollten uns eben anders anziehen. Anders verhalten. Wir! Als ob es etwas damit zu tun hätte, wer schuld ist. Und außerdem« – ein ganz kurzes Zögern – »sind ja nicht nur die mit kurzen Röcken und tollen Titten Sex ausgesetzt.«

Lisbeth erstarrt, spielt Sina etwa auf sie an? Was für eine seltsame Wortwahl – Sex ausgesetzt? Wie einem plötzlichen Regenguss oder einem Verkehrsunfall. Sie wartet darauf, dass Sina weiterredet.

Aber mehr kommt nicht, und das Erstaunen über Sinas Ausbruch mischt sich mit Enttäuschung, verfliegt in dem grauen Zigarettenrauch über ihren Köpfen.



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