Wohin der Adler fliegt by Thomas Jeier

Wohin der Adler fliegt by Thomas Jeier

Autor:Thomas Jeier
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2012-08-29T21:09:22+00:00


13

Schon von Weitem und über das Rattern der Räder hinweg konnte Elaine das Trommeln und den eintönigen Gesang der Geistertänzer hören. Der Wind trug die feierlichen Lieder über die weite Prärie und ließ sie als geheimnisvolles Echo in der Ferne verklingen. Wie immer, wenn sie einer heiligen Zeremonie der Indianer beiwohnen durfte, überkam Elaine das seltsame Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und eine vollkommen fremde Welt zu betreten.

»Jesus, Maria und Josef!«, rief Lucy, als ihr Ehemann den Wagen am Rand einer weiten Senke zum Stehen brachte, die sich nahe der Saint Elizabeth Mission erstreckte und von über zweihundert Geistertänzern bevölkert war. In der Wildlederkleidung ihrer Vorfahren oder in Decken gehüllt bewegten sich Männer, Frauen und sogar Kinder um einen entlaubten Baum herum, dessen kahle Äste mit roten Bändern behangen waren. Einige Krieger trugen blaue Geisterhemden. Mit schlurfenden Schritten, die Arme angewinkelt oder zum blauen Himmel erhoben, sangen sie zum dumpfen Rhythmus der Trommeln.

Elaine stieg aus dem Wagen und ging zögernd in die Senke hinunter. Der junge Krieger, der sie geführt hatte, war längst verschwunden und die Geistertänzer waren so in ihre monotonen Bewegungen und ihren Gesang vertieft, dass sie ihr kaum Beachtung schenkten. Nicht einmal Kicking Bear, der in der Mitte stand und die Tanzenden mit heiseren Schreien anfeuerte, schien sie zu bemerken.

Wie eine Fremde, die irrtümlich aus einer anderen Welt in diese abgelegene Senke geraten war, stand sie im knöcheltiefen Gras und betrachtete das exotische Schauspiel, das sich ihr dicht vor ihren Augen bot.

Sie hatte keine Angst. Dafür lebte sie schon viel zu lange unter den Indianern, um sich von ihnen einschüchtern zu lassen. Wenn Kicking Bear bezweckte, sie zu erschrecken oder sich für die Zurechtweisung in ihrem Camp zu revanchieren, hatte er zum falschen Mittel gegriffen. Eher neugierig betrachtete sie die Tänzer und hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern in der Menge. Sie brauchte nicht lange zu suchen. Etliche Männer und Frauen kannte sie vom Sehen, von den Ration Days auf den Agenturen oder zufälligen Begegnungen, aber auch vertrautere Männer wie One Crooked Foot und Yellow Eyes, den Medizinmann, entdeckte sie unter den Tanzenden. Der alte Chasing Crane, der damals mitten in der Nacht bei ihrem Jagdtrupp aufgetaucht war, hatte sich bei zwei jungen Männern eingehakt, um beim Tanzen nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Kicking Bear stand in der Mitte und verkündete mit lauter, beinahe schriller Stimme: »Meine Kinder, geht diese Straße! Meine Kinder, geht diesen Weg! So will es Wovoka. Es ist ein guter Weg, sagt Wovoka. Er führt in ein fröhliches Land, sagt Wovoka.« Immer wieder und mit immer beschwörender Stimme wiederholte er diese Worte, bis er Elaine am Rand des Tanzplatzes stehen sah und in rhythmischen Sätzen hinzufügte: »Die Weißen sind eifersüchtig auf unsere Religion. Sie wollen uns unsere Träume nehmen. Die Weißen wollen, dass wir mit Tanzen aufhören. Aber wir tanzen weiter, wir tanzen weiter. Dieser Tanz gehört uns! Geht diesen Weg, meine Kinder! So sagt Wovoka. Geht den Weg, er führt in eine neue Zukunft!«

Elaine war eine gläubige Frau, es lag ihr jedoch fern, den Geistertanz der Sioux als bloßen »exotischen Hokuspokus« abzutun.



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