Wir sehen uns am Meer. Roman by Dorit Rabinyan

Wir sehen uns am Meer. Roman by Dorit Rabinyan

Autor:Dorit Rabinyan [Rabinyan, Dorit]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783462316285
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


An einem Nachmittag, an dem wir zu einem Treffen mit Joy und Thomé im Kino Angelica unterwegs waren, gingen wir durch die Church Street in SoHo und passierten die Galerie von Signor Guido. Wir beschlossen, hineinzugehen und ihm guten Tag zu sagen.

Im Innenraum hingen Ölgemälde von Chilmi, zwei rechteckige Leinwände inmitten einer Serie von Landschaften, die Signor Guido ihm im Januar abgekauft hatte. Auf beiden Bildern, die auf den ersten Blick fast identisch wirkten, schlängelt sich ein Fluss durch die gelbliche Dämmerung einer versunkenen Geisterstadt. Im Wasser spiegeln sich dunkelgrüne Bäume und Gräser, durch sie hindurch treiben alltägliche Gegenstände, ein alter Arbeitsschuh, ein Kamm, eine gesprungene Porzellantasse.

Natürlich kannte ich die Bilder. Mir gefiel das eine besser, auf dem die Straße noch etwas beleuchtet ist und die Leere nicht so bedrohlich wirkt wie auf dem anderen, auf dem die Dunkelheit bereits weiter fortgeschritten ist und die Gegenstände im Fluss in der Finsternis verschwimmen. Doch erst hier, an der Wand der Galerie zum Verkauf angeboten, sah ich, dass Chilmi sie mit Titeln versehen hatte. Über dem Namen des Künstlers, der Jahreszahl und den Maßen stand dort »Jindas 1« und »Jindas 2«.

Das schwache Licht, das die nassen Straßen von SoHo etwas erhellt hatte, als wir vor etwa einer Stunde aus der Metrostation gestiegen waren, war innerhalb der kurzen Zeit, die wir in der Galerie verbracht hatten, bereits trübe und matt geworden. Ich fragte Chilmi nach der Bedeutung der Titel Jindas 1 und 2.

»Jindas ist unser Dorf«, sagte er, zog sich die Wollmütze über den Kopf und schaute nach rechts und nach links, um den Osten und den Westen auszumachen, »von dort kommt meine Familie.« Mit einem Kopfnicken bedeutete er mir, nach rechts zu gehen.

»Aus einem Dorf?«, neugierig trat ich näher an ihn heran, »ich dachte, ihr seid aus Hebron.«

Jetzt fiel mir wieder ein, dass er mir über seinen Vater erzählt hatte, der habe in seiner Jugend eine Vorliebe für Aftershave gehabt, was ihm im Dorf den Spitznamen Duftkerze eingetragen hatte. Und dann gab es die Familienanekdote, wie er und seine Brüder sich über die Eltern lustig gemacht hatten, die immer, wenn im Sommer eine Brise ins Haus wehte, nostalgisch geseufzt hatten: ›Ach, die gute Luft, die gute Luft, wie damals im Dorf.‹

»Nach Hebron sind meine Eltern erst 1967 gekommen, nachdem sie wegen des Krieges aus dem Flüchtlingslager in Jericho fliehen mussten.«

Geflohen? Flüchtlingslager? Ich hatte angenommen, er käme aus einer der wohlhabenden alteingesessenen bürgerlichen Familien Hebrons. Nach Ramallah waren sie gezogen, so viel wusste ich aus seinen Erzählungen, als Chilmi Gymnasiast war. Aber Jericho, plötzlich war ich verunsichert, lag das nicht im Jordantal, sah man nicht die Hinweisschilder nach Jericho, wenn man ans Tote Meer fuhr?

»Dann befand sich euer Dorf also in der Nähe von Jericho?«, ich senkte den Blick auf die Beine der Passanten.

Er stieß ein kurzes, überraschtes Lachen aus: »Nein, nein«, ein Anflug von Kummer erschien in seinen Augen, als er sich zu mir wandte, »unser Dorf lag südlich von Lid«, er sprach den Ortsnamen irgendwie erwartungsvoll aus, als enthielte der einen Hinweis, »dort, wo ihr euren Flughafen gebaut habt.



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