Wie du Ihr by Bernard Beckett

Wie du Ihr by Bernard Beckett

Autor:Bernard Beckett [Beckett, Bernard]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783839001240
Herausgeber: Loewe Verlag GmbH
veröffentlicht: 2011-01-14T23:00:00+00:00


15

23. April

Das ist alles, was ich noch habe: ein selbst gemachtes Seil, das ich aus den Fetzen meines zerrissenen Kopfkissens geflochten habe. Nur ein Ding. Genug, um ihn zu erwürgen. Er hat seinen Zug gemacht. Die Frage ist, wer von uns zuerst die Nerven verliert. Heute hat er mich gezwungen, Farbe zu bekennen, und mir blieb nichts anderes übrig, als ein Risiko einzugehen. Jetzt habe ich nur noch diese einzige Chance.

Heute früh kam die Schwester direkt nach dem Schichtwechsel zu mir. Auf der Station war es noch dunkel und man hörte nur die leisen Geräusche der unruhigen Schläfer. Ich hatte die Schwester noch nie zuvor gesehen. Als ich das Geräusch ihrer Schritte hörte, bin ich sofort aufgewacht. Seit fast drei Wochen habe ich nicht mehr richtig geschlafen. An der Art, wie sie eilig ins Zimmer kam, erkannte ich sofort, dass sie keine Frau war, die sich mit unnötigem Geplauder oder Lächeln aufhielt. Mit gesenktem Kopf erledigte sie konzentriert ihre Aufgaben, während sie versuchte, nicht auf die Uhr zu sehen, und an das halb bezahlte Auto und das nächste freie Wochenende dachte. Wahrscheinlich war ich ihr erster Patient an diesem Morgen und sie musste sich noch auf den vor ihr liegenden Tag einstellen. Deshalb sah sie auch nicht, wie ich vor Schreck die Augen aufriss und mir der Angstschweiß auf die Stirn trat.

Sie hatte einen Metallständer mit voller Infusionsflasche ins Zimmer gerollt. Die Nadel hatte sie bereits aus der sterilen Verpackung genommen und hielt sie mit ihren Handschuhhänden hoch. Bestimmt auf Anweisung des Arztes. Was sonst? Mein Täuschungsmanöver am Vorabend hatte ihn nicht überzeugt. Vielleicht hat er die ganze Zeit Bescheid gewusst. Ich konnte nicht feststellen, was in der Infusion war, und fragen konnte ich auch nicht. Aber ich konnte es mir denken. Bei dem Gedanken, was in dieser Flüssigkeit sein könnte, brannten mir die Augen und mein Mund wurde trocken. Ich wollte mich wehren. Ich wollte um mich schlagen. Ich wollte »Nein!« schreien. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis meine Fluchtgedanken ertränkt wurden. Ich warf einen raschen Blick auf die Schwester. Was würde sie tun, wenn ich floh? Würde sie Alarm schlagen oder eher selbst die Verfolgung aufnehmen? Sie würde mir hinterherlaufen, da war ich mir sicher. Es war ihr Job, ihr Wagen, ihr Winterurlaub.

Ein Lehrer hat mir mal gesagt, dass die wichtigsten Entscheidungen im Leben in dem Moment, wenn man sie trifft, fatalerweise oft gar nicht so wichtig wirken. Bei dieser war es anders. Es ging um Leben oder Tod. So einfach, so klar, so wichtig. Und mir blieb nur eine Sekunde, um mich zu entscheiden. In meinem Kopf flog eine Münze hoch und ich sah zu, wie sie durch die Luft wirbelte. Ich würde abwarten. Ein gewaltiges Risiko, aber meine beste Chance.

Ich versuchte, die Panik hinunterzuschlucken. Die Schwester nahm meine Hand. Ich hatte das Gefühl, dass meine Hand in ihrer kalten Hand verbrannte, aber sie schien nichts zu merken. Sie tupfte die Vene auf meinem Handrücken ab und schob die erste Nadel hinein. Es war nur eine Kochsalzlösung, aber ich zuckte trotzdem zusammen.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.