Wenn du mich brauchst by Jana Frey

Wenn du mich brauchst by Jana Frey

Autor:Jana Frey [Frey, Jana]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3401504622
Herausgeber: Arena
veröffentlicht: 2011-04-30T22:00:00+00:00


20. HANNAH

»Heute wäre mein kleiner Bruder fünfundsiebzig Jahre alt geworden«, sagte Esther und trank Sherry, in großen, ärgerlichen Schlucken. »Unglaublich. Er war so ein Winzling. So zart, so gebeugt, so von seiner Knochenkrankheit gezeichnet.«

Esther starrte vor sich hin. »Und ich habe nichts von ihm zurückbehalten. Die Nazis haben ihn einfach so zertreten wie ein Insekt.«

Shar und ich schwiegen.

»Dabei war er ein lustiges Kerlchen, trotz seiner Malessen. Jakob und ich hatten viel Spaß mit ihm. – Fünfundsiebzig! Ist das zu fassen! Und dabei ist er nur neun Jahre alt geworden. Und jetzt wäre er also ein alter Mann …«

Esther trank Schluck um Schluck. »Doch, doch, ich habe etwas von ihm zurückbehalten«, murmelte sie irgendwann. »In meinem Herzen sind seine großen, klugen Augen. Und sein Lachen, wenn er sich freute, dabei hatte er nicht oft Grund dazu. Ach, Mendel …«

Wir saßen im Garten.

Meine Mutter war in der Klinik bei Jonathan, der heute keinen guten Tag hatte. Und mein Abba war bei Mr Goldblum und Lori in der Werkstatt, weil ein wichtiger Kunde mit einem sehr wertvollen Instrument erwartet wurde.

Im Haus klingelte unser Telefon. Ich ging hinein und nahm den Hörer ab. Vielleicht war es meine Mutter.

»Hallo?«

»Hallo. Hier spricht Leek Lovell …«, sagte eine freundliche Stimme.

Lovell. – Leek Lovell?

Er?

Leek? Was war das für ein Name? Leek – mein Vater?

Ich spürte, wie der Hörer in meiner Hand zu zittern anfing.

»Ja?«, fragte ich leise.

»Ich weiß nicht, ob ich – ungelegen anrufe …«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung zögernd.

Ich schwieg.

»Ich weiß auch gar nicht genau, wie ich anfangen soll«, fuhr die Männerstimme fort. Sie klang jung und – eigentlich sympathisch.

Meine Kehle war wie zugeschnürt.

»Eigentlich ist es doch nur, als ob du adoptiert wärst«, hatte Sharoni vor ein paar Tagen gesagt. »Nicht dramatischer. Und adoptiert sind massenweise Leute, Han. – Ich kenne alleine schon total viele: meine beiden Cousinen. Die Tochter meiner Kieferorthopädin. Eine Freundin meiner Mutter. Sie ist ein Findelkind aus Äthiopien. Und dann noch die drei Kinder vom besten Freund meines Vaters. Sie kommen alle aus Indien.«

Ich hatte dazu geschwiegen. Hatte Sharoni recht?

Ich kannte natürlich auch adoptierte Kinder. Die Kinder meiner ersten Lehrerin an der Grammar School stammten aus Korea, süß waren sie. Und dann war da noch Arik – Jonathans kleiner, penetranter Freund. Er war, wie wir alle wussten, ein Samenspendekind, weil sein Dad als Kind irgendeine Krankheit durchgemacht hatte, die ihn zeugungsunfähig gemacht hatte.

Aber sogar Arik kannte seine Herkunft.

»Ich habe eine Mom«, erklärte er gerne selbstgefällig zu allen passenden und unpassenden Zeiten. »… und zwei Dads. Einen biologischen Dad – und meinen normalen Dad! Bei ihm wohnen Mom und ich.«

Aber bei mir war das alles über Nacht gekommen. Über mich hereingebrochen. Ich war mir immer sicher gewesen, dass meine Ima und mein Abba meine wirklichen Eltern waren. Das war mein Terrain gewesen: Sicherheit.

Und jetzt hatte ich irgendwie einfach plötzlich den Boden unter den Füßen verloren.

»Hallo?«, wiederholte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Sind Sie noch dran?«

»Ja …«, flüsterte ich und versuchte, mich zusammenzureißen. Was Arik, die kleine Nervensäge, konnte, musste ich doch auch schaffen.



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