Weit weg vom Rest der Welt • In 90 Tagen von Tanger nach Johannesburg by Andreas Altmann

Weit weg vom Rest der Welt • In 90 Tagen von Tanger nach Johannesburg by Andreas Altmann

Autor:Andreas Altmann [Altmann, Andreas]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644461512
Herausgeber: Rowohlt Digitalbuch
veröffentlicht: 2015-07-17T16:00:00+00:00


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Sechstes Kapitel

Schönes Zugfahren. Sechsunddreißig Stunden und so viele Geschichten lang. Die gemeinste erzählt mir Méliane, eine junge, emanzipierte afrikanische Frau aus Ouagadougou. Wir sitzen im gleichen Abteil, wollen beide nach Abidjan. Man spürt ihre Wut, wenn sie loslegt. Weil sie vor achtundzwanzig Jahren ein Opfer war. Und nicht vergessen will. In jeder Liebesnacht daran erinnert wird, dass ihr ein wesentlicher Teil ihres Körpers gestohlen wurde. Sie unheilbar beschädigt wurde von einer finsteren Alten, die mit einem Küchenmesser einen grausigen Ritus an ihr vollzog.

Das dumme Weib als Erfüllungsgehilfe anmaßender Männer. Protzige Gecken, die gern zu schwerer Körperverletzung greifen, um sich der Treue ihrer Frauen zu versichern. Lusträuber. Denn fehlt die Klitoris, fehlt alle Erregung, sprich, jedes Verlangen nach einem anderen Mann. Heute zieht Méliane in ihrer freien Zeit durch die Dörfer, klärt auf, will die barbarische Beschneidung aus Afrika vertreiben.

Stunden bevor wir die Grenze erreichen, wird es unruhig im Zug. Seltsame Manöver finden statt. Die Schmuggelware ist rechtzeitig und intelligent zu verstauen. Den besten Profit bringt französischer Pastis, der drüben an der Côte d’Ivoire viel teurer ist. Der Koch dirigiert, er weiß die Schlupflöcher, kennt am genauesten die Psychologie schnüffelnder Zollbeamter.

In Niangoloko, dem Grenzort, müssen Ausländer zur Passkontrolle ins Büro. Die bis zuletzt freundlichen Burkiner. Lächeln, stempeln, keine besonderen Vorkommnisse. Bis ich ein herzaufschneidendes Wimmern vernehme. Direkt von nebenan. Die Beamten haben nichts dagegen, dass ich nachschaue. Ich öffne die nächste Tür, und dahinter kniet eine Frau, schluchzend. Zwei Meter neben ihr eine andere Frau, sie schnaubt vor Giftigkeit. Der dramatische Auftritt der beiden entpuppt sich als alltägliche Szene. Eher lustig als erbarmungswürdig. Die schluchzende soll etwas gestohlen haben, einen Schal. Sagt die giftige, die Schalbesitzerin. Das zänkische Duo, so der Zollchef, sei hier vorübergehend zwischengelagert. Bis die schrillsten Geräusche sich gelegt hätten und mit einer lautloseren Protokollaufnahme begonnen werden könne.

Mein Freund, der Bahnhofsvorsteher, hat Wort gehalten. Sogar ein Bett in einem Liegewagen gibt es. Ein kleiner Luxus angesichts der querliegenden Schläfer, die ineinandergekeilt den Weg zur Kabine pflastern. Feucht vom Platzregen, der durch zerbrochene Fensterscheiben peitscht.

Und noch eine Freude. In der zweiten Koje liegt Lin, Handelsvertreter aus Peking mit festem Wohnsitz in Deutschland. Zurzeit mit einem Beutel voller Rinderhäute unterwegs. Als Proben für eventuelle Geschäfte. Ein feiner Mensch. Afrika quält ihn. Doch Lin behält Stil. Sein höflicher Umgang mit den Schwarzen fällt auf. Der Fünfundfünfzigjährige entwirft folgende Weltordnung: Hamburg, ganz oben. Irgendwo in der Mitte, China. Und am Ende, ganz unten, Afrika.

Am nächsten Morgen klopft Ardel an unsere Tür. Die resolute Dicke ist gerade zugestiegen und fragt, ob sie ihre Ware bei uns abladen kann. Wie nein sagen? Afrika ist wie ein Hochwasser, zuletzt dringt es in jede Ritze. Vor unserem Erste-Klasse-Abteil liegt die Dritte Welt. Zudem hat Maman Charme und fünf Kinder zu ernähren. Sie wuchtet ihre Gemüsekörbe herein, sie muss zum Markt nach Abidjan.

Später geraten wir in einen bemerkenswerten Zustand. Ardel, Lin und ich, die Afrikanerin, der Asiate, der Europäer, wir reden. Und plötzlich ist es still. Der Zug schaukelt, über unsere Gesichter rinnt der Schweiß, jeder träumt.



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