Weihnachtsgeschichten am Kamin 30 by Barbara Mürmann (Hg.)

Weihnachtsgeschichten am Kamin 30 by Barbara Mürmann (Hg.)

Autor:Barbara Mürmann (Hg.) [Mürmann, Barbara]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644557017
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-10-29T16:00:00+00:00


Ein Friedensengel zum Christfest

Alina Aidenberger

Es war Vorweihnachtszeit. Draußen pfiff der Wind und trieb die ersten weißen Flöckchen vor sich her. Drinnen knisterte das Holz im Ofen und sorgte für wohlige Wärme. Doch von Besinnlichkeit noch keine Spur! Im Gegenteil! Im Haus herrschte hektisches Treiben, denn tausend Dinge mussten noch vor dem Fest der Feste erledigt werden.

Meine Mutter wühlte mit hochgekrempelten Ärmeln und vorgebundener Schürze im Wäschekorb und sortierte mit flinken Handbewegungen die weiße Kochwäsche aus. Schließlich sollte die nahende Zeit von Heiligabend bis zu den Heiligen Drei Königen am sechsten Januar traditionsgemäß «wäschefrei» sein, und so gab es heute noch viel zu tun. Währenddessen reckte sich meine Großmutter nach der Gardinenstange, um die Vorhänge abzunehmen. Dabei stöhnte sie leise über ihren Rheumatismus.

Um den Kopf hatte sie ein weißes Tuch geschlungen, und so wirkte sie ein bisschen wie Frau Holle beim Kissenschütteln. Denn mit jedem Zentimeter zurückgeschobenen Vorhangs wurde die Sicht nach draußen freier, und man konnte immer mehr weiße Sternchen durch die Luft wirbeln sehen. Lautlos ließen sie sich auf den kahlen Ästen des alten Baumes nieder und bildeten dort einen silbrig glitzernden Mantel. Wunderschön! Da fehlte eigentlich nur noch der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten – oder das Christkind. Ob es in einigen Tagen wohl auch wie eine Schneeflocke durch die Lüfte schweben würde?

«Verdammtes Wetter», schimpfte die Oma vor sich hin und riss mich jäh aus meinem Weihnachtstraum. «Kein Wunder, dass einem da alle Knochen weh tun.» Unter der Last von zwei schweren dunkelroten Vorhängen wandelte sie zum Wohnzimmer hinaus in den Flur. Das seidig schimmernde Tuch, das an ihrem Körper herunterhing, oder besser gesagt, ihn elegant umschmeichelte, machte aus der Frau Holle von eben nun einen würdigen Sultan mit stolzem Turban. Oder handelte es sich gar um einen der Heiligen Drei Könige auf dem Weg zum Jesuskind? Etwas komisch erschien lediglich der Gedanke, dass auf diese Königsgestalt zunächst nur die feuchtwarme, dampfende Wäsche im Keller warten sollte.

Gar nicht königlich, eher mit zerzaustem Haar und von Anstrengung gezeichnet, stand meine Mutter derweil im Türrahmen zwischen Schlafzimmer und Wohnstube. Die schmutzige Wäsche hatte sie über ihren Arm geworfen. Und mit dem rechten Fuß schob sie die alten Sportschuhe unter der Couch hervor. Dann wechselte sie ihre warmen Pantoffeln gegen das fast antike Schuhwerk, pustete sich dabei erschöpft die Haare aus dem Gesicht und folgte schließlich meiner Großmutter in den Keller. Allerdings nicht, ohne mir noch einmal zuzurufen: «Streng dich aber nicht zu sehr an! Du musst dich noch schonen. Und ob dir der Lackgeruch guttut, weiß ich auch nicht!»

Ich selbst, noch recht schwach und doch bereits ein wenig erholt von den schweren Asthmaanfällen, die mir drei Wochen Klinikaufenthalt beschert hatten, saß am Wohnzimmertisch. Jetzt kehrte in der guten Stube endlich Ruhe ein, zumindest für einen Moment oder sogar für eine Stunde oder mehr. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Zumindest so tief, wie es mir meine Krankheit erlaubte. Und wahrhaftig: Trotz der Hektik um mich herum fühlte ich mich schon ein wenig beseelt von der feierlichen Stimmung und dem



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