Was bleibt mir übrig by Hildebrandt Dieter

Was bleibt mir übrig by Hildebrandt Dieter

Autor:Hildebrandt, Dieter [Hildebrandt, Dieter]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3463400324
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


In Leipzig hat gestern der »Stasi« (Staatssicherheitsdienst) die 700 Jahre alte Paulinerkirche besetzt. Im Innenraum der Kirche hatten sich viele Menschen versammelt, die gegen den geplanten Abriß protestieren wollten. Der Stasi leistete schnelle Arbeit.

Studenten ließen sich nicht abschütteln, formierten sich vor der Kirche zu einem »Sit-in«.

Dieses wurde, so hieß es kurz und knapp in einer Pressemitteilung, »im Keime erstickt«.

Wie erstickt man so was im Keime?

Also bereits in der Kniebeuge wird der Demonstrant, der im Begriffe ist, sich niederzusetzen, wieder hingestellt? Die Studenten wurden, so melden Beobachter, sofort verhaftet. In zwei Jahren werden sie Gelegenheit haben, sich wieder der sozialistischen Gesellschaft anzupassen. Die DDR ist fest entschlossen, das, was da aus der Bundesrepublik überschwappt, ja eben, im Keime zu ersticken. Sie ist fest überzeugt davon, daß ihre Bürger zum Glück gezwungen werden müssen. Und da hilft nur lernen, lernen, lernen. Und immer wieder erziehen, belehren, mit »Fakten« überzeugen und diskutieren, Lernprozesse vorantreiben und den Dauerschülern alles vom Leibe halten, was sie in ihrer Entwicklung stören könnte. Zum Beispiel Zeitungen aus dem Westen, die selbstverständlich lügen, wenn sie behaupten, in den westlichen Ländern bestünde Pressefreiheit.

Daß sie in einer sozialistischen Gesellschaft nicht gewährt werden kann, weiß jeder Lernwillige.

Zu viele Abweichler, Aufweichler, individuelle Dummköpfe, unbewußte Konterrevolutionäre könnten das große Erziehungswerk gefährden.

Die eigene Presse, immer unter Kontrolle der Erziehungsbeauftragten, hat ihre große Aufgabe begriffen: Sie trocknet den ganzen Unterhaltungssumpf gnadenlos aus und präsentiert sich als das, was sie sein will, als spärlich bebilderte Schulverordnung. »Neues Deutschland«, Staats-Presseorgan, ist stolz auf seine freiwillig verbreitete Langeweile.

In den nie endenwollenden Nachtgesprächen dieser Tage sind solche Ansichten nicht gefragt.

Zu Auseinandersetzungen mit engagierten Studenten kommt es gar nicht mehr. »Theoriedefizit« heißt es oder »Scheißliberaler« oder, wenn gar nichts mehr hilft: »Opa!«

Wir altern innerhalb kurzer Zeit um Jahre.

Die Komiker dieser Zeit heißen Teufel und Kunzelmann. Sie sind »effektiv«, sie bewegen etwas, verunsichern die saturierte Nachkriegsgeneration. Ihr Humor macht nervös, weil er nicht verstanden wird. Das Haus der »Münchner Lach- und Schießgesellschaft« bekommt den Stempel des »systemimmanenten« Etabliertenschuppens.

Ich muß zugeben, das trifft mich sehr hart. Und doch, es reißt mich nicht auf die Straße, ich will keine Steine schmeißen auf Polizisten, die es vielleicht deswegen geworden sind, weil sie keine Möglichkeit hatten zu studieren.

Der Hochmut dieser Revoluzzer aus besseren Kreisen macht mich immer wieder zornig.

Die Ahnungslosigkeit der etablierten Politiker, mit der sie dieser Generation begegnen, macht mich fassungslos. Sie wehren sich kläglich, sind verwirrt, beleidigt und setzen, in Ermangelung von Argumenten, Polizei ein. Wasserwerfer, Knüppel und Tränengas sind die Antwort auf nie verstandene Fragen.

Der Rektor der Berliner TU ist zurückgetreten, weil Studenten seinen Vortrag gestört haben. Es war ein Vortrag zum Andenken an den Besuch der britischen Königin vor vier Jahren.

Die Theatervorstellungen in Köln, Bonn, Dortmund und München sind durch Demonstranten gestört worden, die mit den Abonnenten diskutieren wollten.

Empörter Ausruf eines Theaterbesuchers: »Ihr Verbrecher, geht zu Ulbricht!«

Bei den heutigen Landtagswahlen in Baden-Württemberg hat die rechtsradikale Nationaldemokratische Partei 9,8 Prozent erreicht (1965: 2,2 Prozent).

Ich lese den Satz: »Gewaltsam Kämpfende werden einander immer ähnlicher: Gewalt neigt grundsätzlich dazu, undemokratisch und reaktionär zu sein.«

Scheißliberal, diesen Satz für richtig zu halten, aber ich tu’s.



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