Versuche über den Unfrieden by Enzensberger Hans Magnus

Versuche über den Unfrieden by Enzensberger Hans Magnus

Autor:Enzensberger, Hans Magnus [Enzensberger, Hans Magnus]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2015-03-26T16:00:00+00:00


VII

Unschuldsvermutungen, Minenfelder

In eine Art von Selbstversuch mündet früher oder später auch die bloße Rede vom Bürgerkrieg. Dabei werden keine Knochen gebrochen; und doch bildet jede Auseinandersetzung über den Bürgerkrieg den Bürgerkrieg ab. Ich bin nicht neutral. Ich bin angesteckt. Ich spüre, wie sich Wut, Angst und Haß in mir anstauen. In das, wovon ich rede, bin ich verwickelt. Mein limbisches System überflutet das Gehirn mit Botenstoffen, von denen ich nichts weiß. Ich drohe die Kontrolle über die Gedanken, die mir kommen, zu verlieren.

Ein linearer Diskurs über dieses Thema läßt sich nicht führen. Wer nur die eigene Position behaupten will, schürt den Konflikt. Einen archimedischen Punkt gibt es nicht. Ich habe ein intellektuelles und moralisches Minenfeld betreten. Ich bewege mich vorsichtig. Aber ich weiß, daß ich mich bestenfalls orientieren, daß ich aber das Feld nicht räumen kann. Ich bin mit niemandem einverstanden, nicht einmal mit mir selber.

Da ich zufällig hier, in Deutschland, geboren bin, sehe ich mich immer noch, nach fünfzig Jahren, in einem Keller hocken, eingewickelt in eine Decke. Das Gebell der Flak kann ich bis auf den heutigen Tag vom Heulen einer Luftmine unterscheiden. Manchmal sucht mich im Traum der auf- und abschwellende Ton der Sirenen heim, eine widerwärtige Melodie. An den halb mulmigen, halb apathischen Schrecken der Bombenangriffe kann ich mich gut erinnern. Und die Erwachsenen, die da auf der Kellerbank kauerten und lauschten, und denen die »Terrorangriffe« der Alliierten galten, waren die »unschuldige Zivilbevölkerung«. Jedesmal, wenn ich diese Worte höre, gerate ich ins Grübeln.

Wenn der Bürgerkrieg seinen Höhepunkt erreicht hat, stellt sich heraus, daß die Mehrheit ihn nicht gewollt hat. Sie ist stumm. Niemand nimmt Rücksicht auf sie. Wo immer sie eine Chance sieht, wendet sie sich von den Kämpfen ab und flieht. Vor allem die Frauen sind nur noch damit beschäftigt, in den Ruinen nach einer Handvoll Mehl zu suchen, nach Brennholz, nach ein paar Kartoffeln, und ihre Kinder fortzuschleppen. Alte Leute stochern in ihren niedergebrannten Hütten, müde Männer begraben die Toten. Jeder kennt diese und schlimmere Bilder. Diese Menschen schießen und foltern nicht. Ihre Gesichter sind nicht vom Nächstenhaß gezeichnet. Sie sind grau vor Erschöpfung.

Aber das war nicht immer so. Mit der »unschuldigen Zivilbevölkerung«, die im Keller saß, während die Phosphorbomben die Stadt in ein Feuermeer verwandelten, war eine seltsame Veränderung vorgegangen. Ich weiß nämlich, wie ihre Augen geleuchtet hatten, jedesmal, wenn der Führer sprach, der ihnen nicht verheimlichte, was er vorhatte: ein »noch nie dagewesenes, gigantisches Ringen«, den Entscheidungskampf bis aufs Messer, und wie sie dabeigestanden hatten, als wenige Jahre zuvor die Synagogen brannten. Ohne ihre begeisterte Zustimmung wären die Nazis nie an die Macht gekommen.

Einen Idioten nenne ich jeden, der glaubt, das gelte nur für die Deutschen. Ohne jene »durchdringende Energie«, ohne jenes »Glück«, ohne jene »Ekstase«, von der Bill Buford spricht, kann sich weder der molekulare Bürgerkrieg vor unserer Haustür noch das Inferno jenseits unserer Grenzen entzünden. Am Anfang herrscht stets der hysterische Jubel, ob auf den Rängen des Stadions oder auf den Straßen von Rostock und Brixton, von Bagdad und Belgrad.



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