Unter Freunden by Suter Martin
Autor:Suter, Martin [Suter, Martin]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257606270
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-06T00:00:00+00:00
[99] Gislers Letzter*
[* Die letzte Kolumne für die Weltwoche. Die folgenden erschienen im Magazin des Tages-Anzeiger.]
In der Schublade »Diverses«, ganz hinten, stößt Gisler auf eine Krawatte, noch original in Cellophan verpackt. Eine Krawatte? Vage erinnert er sich: Seine emergency tie aus der Zeit, als er zum Lunch noch Salatteller mit french dressing bestellte. Wie lange ist das her?
Einen Moment zögert er, unschlüssig, ob er sie in den Fünfzig-Liter-Müllsack schmeißen soll oder in die Umzugsschachtel, als Andenken an damals, als ihm seine Figur noch french dressing erlaubte. Er entscheidet sich für den Müllsack. Tragen kann er sie ohnehin nicht, sie stammt aus der Epoche, als man noch lustige Krawatten trug.
Draußen wird es dunkel, bevor es richtig hell geworden ist. Ein Spätnachmittag für überfrierende Nässe, wie geschaffen für seine Stimmung.
In der Schublade liegt ein herrenloser Adapter. Er legt ihn zur Sicherheit in die Schachtel »Div. private Hardware«.
Dabei hat er sich gefreut auf diesen Tag. Er hat vorgehabt, spontan ein paar ausgesuchte Kollegen und Vorgesetzte in sein Büro einzuladen und die Kiste Pomerol anzubrechen, [100] das Weihnachtsgeschenk eines Lieferanten, der zu spät von seiner Kündigung erfahren hatte. Man hätte noch ein bißchen über alte Zeiten geplaudert, ein paar Kriegsbeile begraben und sich für die Zukunft alles Gute gewünscht.
Aber als Gisler heute pünktlich ins Büro kam, stand auf seinem Türschild »Zehnder«.
Das kann kein Fauxpas eines übereifrigen Mitarbeiters des Hausdienstes sein. Das ist die letzte von vielen gezielten Spitzen von ganz oben. Man will ihm zeigen, daß er nicht unersetzlich ist. Im Gegenteil, er ist bereits ersetzt durch einen gewissen Zehnder, der es nicht erwarten kann, in sein Büro einzuziehen und alles hundertmal besser zu machen.
Ein Umschlag mit Geschäftskarten, die er immer mal in sein Palm eintippen, und einer mit Quittungen, die er immer mal abrechnen wollte, landen im Müll. Wenn er so verdammt ersetzlich ist, warum hat man ihn dann nicht freigestellt?
Und er war noch so blöd, seine volle Leistung zu erbringen. Statt wie jeder andere die letzten Monate etwas ruhiger anzugehen, etwas später zu kommen und dafür etwas früher zu gehen, endlich die liegengebliebenen Quittungen abzurechnen und die angesammelten Karten einzutippen, legte er sich ins Zeug, als wäre er in der Probezeit. Leistete sogar Überstunden, war initiativ, kreativ und innovativ. Gisler blieb Gisler: brillant bis zuletzt.
Nicht wie Suters letzte Pointe.
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