Tschernobyl by Alexijewitsch Swetlana
Autor:Alexijewitsch, Swetlana [Alexijewitsch, Swetlana]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492968126
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2015-05-02T16:00:00+00:00
Monolog darüber, wie eine völlig unbekannte Sache in dich eindringt und Besitz von dir ergreift
Ameisen krabbeln über den Stamm … Ringsum dröhnt schweres Armeegerät. Soldaten. Geschrei. Schimpfen. Flüche. Hubschrauber knattern. Sie aber krabbeln … Ich kam aus der Zone, und von allem, was ich an dem Tag gesehen hatte, ist mir nur das eine Bild deutlich in Erinnerung geblieben … Wir hielten im Wald an, ich stand, an eine Birke gelehnt, und rauchte. Dicht vor meinen Augen krabbelten die Ameisen über den Stamm, ohne uns zu hören, ohne uns Beachtung zu schenken … Wir würden verschwinden, und sie würden es gar nicht bemerken. Und ich? Ich hatte sie noch nie so nahe wahrgenommen …
Zuerst sagten alle »Katastrophe«, dann »Atomkrieg«. Ich habe viel über Hiroshima und Nagasaki gelesen, Dokumentaraufnahmen gesehen. Schrecklich, aber verständlich: Atomkrieg, Explosionsradius … Das konnte ich mir noch vorstellen. Aber was dort mit uns geschehen ist, kann das Bewußtsein nicht fassen. Wir schwinden dahin … Du spürst, wie eine völlig unbekannte Sache deine ganze frühere Welt zerstört, in dich eindringt, Besitz von dir ergreift. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Wissenschaftler. »Es dauert über 1000 Jahre«, erklärte er. »Die Halbwertzeit von Uran 238 beträgt über eine Milliarde Jahre. Und bei Thorium sind es sogar 14 Milliarden Jahre.« 50 … 100 … 200 Jahre … Aber weiter? Weiter reichte mein Vorstellungsvermögen nicht. Ich begriff nicht mehr, was Zeit ist, wo ich war.
Darüber heute schreiben? Erst zehn Jahre sind vergangen … Schreiben? Ich denke, das ist sinnlos! Man kann nichts verständlich machen, nichts begreifen. Wir werden doch nur auf etwas Ähnliches wie unser Leben zurückkommen … Ich habe es probiert … Es hat nicht geklappt … Nach Tschernobyl ist der Mythos von Tschernobyl geblieben. Zeitungen und Zeitschriften wetteifern im Beschreiben schlimmer Dinge, besonders wer nicht dort gewesen ist, liebt die Schrecken. Alle lasen die Geschichte mit den Pilzen von der Größe eines menschlichen Kopfes, aber keiner hat je einen gefunden. Daher muß man nicht schreiben, sondern aufzeichnen. Dokumentieren. Nennen Sie mir einen phantastischen Roman über Tschernobyl … Es gibt keinen! Die Realität ist viel phantastischer!
Ich habe ein spezielles Notizbuch … Dort halte ich Gespräche, Gerüchte, Witze fest. Das ist viel interessanter, und es steht außerhalb der Zeit. Was ist vom alten Griechenland geblieben? Seine Mythen …
Hier ist mein Notizbuch …
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