Tote Mädchen by Calder Richard
Autor:Calder, Richard [Calder, Richard]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2012-07-12T22:00:00+00:00
9
Die Lilim
Mein Kindermädchen hat mir als Erste von den Lilim erzählt. »Sie sollen das Land erben«, sagte sie. Eine Silhouette ihres Profils wurde vom Nachtlicht an die Wand geworfen, zum Schattenspiel meiner Spielsachen. Oft zog Nursie die Männchen auf und ließ sie über die Kommode hüpfen, sodass das Schlagen ihrer winzigen Trommeln und Becken, das Klappern von Weißblechgliedmaßen in meiner Erinnerung stets ihre Worte begleitete. »Was für hübsche Automaten! Pantalone, Harlekin, Pierrot ... dein Vater verwöhnt dich wirklich maßlos! Aber hüte dich vor ihr, Peter.« Sie hob die zappelnde Colombina hoch, das Ebenbild meiner Angebeteten. »Hüte dich vor toten Mädchen. Vor ihren allzu roten Lippen. Vor ihren Herzen aus Eis.«
Dann hielt sie inne, ihre Wangen schamrot, und murmelte: »Oje, oje, das wäre wirklich die Aufgabe eines Mannes.« Und sie erklärte mir, was es mit den Lilim auf sich hatte. Wie die meisten Jungs wusste ich natürlich schon eine Menge aus den schmutzigen Witzen meiner Schulkameraden. Aber Nursie lag nicht meine moralische Erbauung am Herzen, sie wollte mich warnen. »Das Dienstmädchen«, sagte sie zum Abschluss ihrer Biologiestunde. »Du siehst sie zu häufig. Was für ein unreines, boshaftes Weib! Dein Vater begreift das nicht. Du darfst nicht an sie denken!« Aber wie konnte ich nicht an sie denken ‒ an Titania, meine lebende Colombina? Und in dem Moment fragte ich mich: Wusste Nursie Bescheid? (Doch worüber?) Dieses schmale Profil mit den hohen Wangenknochen, das über die Wände geisterte, diese hartherzigen, finster-volkstümlichen Worte, dieser Lavendelgeruch, wenn sie mir einen Gute-Nacht-Kuss gab: Nursie läuterte meine Träume.
In jenem Sommer sprudelte die Sonne jeden Morgen wie Limonadenchampagner in mein Zimmer. Die Sommerferien befanden sich auf ihrem Höhepunkt, die Welt gehörte mir und Titania, und Nursies Worte waren Schnee von gestern. Wenn ich den Vorhang aufzog, blickte ich auf den Grosvenor Square hinunter, der von großen, pseudo-georgianischen Gebäuden gesäumt war. Die Ruine der alten amerikanischen Gesandtschaft lag direkt gegenüber, halb hinter dichtem Ulmenlaub verborgen; die Luft duftete und war vom Murmeln der Bienen erfüllt. In jenem Sommer geriet mein Fleisch in Aufruhr; meine Stimme brach; mein Herz erblühte. Damals wusste ich noch nicht, dass meine Kindheit auf dem Altar der Lilim geopfert werden würde.
Es begann eines Morgens. Titania war in der Küche. Ihre Uniform, die mein Vater entworfen hatte, war von Tenniels Alice-Illustrationen inspiriert: ein Trägerkleid ‒ rosa, nicht wie üblich blau ‒ umspielte ihre Knie; eine gestärkte Schürze; bunt gestreifte Strümpfe; und rosafarbene Satinpumps. (Mein Vater begrüßte sie stets mit den Worten: »Na, wie geht es uns heute im Wunderland?«) Cornflakes und ein Krug Milch standen für mich bereit.
»Lass uns doch wieder mal ins Land der Seven Stars gehen. Wie wäre es mit heute?«, fragte ich meine hübsche Freundin. »Dort gibt es eine Menge zu tun.«
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Peter«, zwitscherte sie, wobei ihre vogelgleiche Koloratur (»Meine Nachtigall!«, sagte mein Vater immer) einen auffälligen Kontrast zu ihrem autistischen Gesicht bildete. Tief unglücklich kaute ich auf meinen Cornflakes herum.
»Aber du hast doch eine Lizenz. Wegen Nursie musst du dir keine Sorgen machen.«
»Mrs. Krepelkova mag keine toten Mädchen.
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