Tage im Leben eines Feiglings by Werner J. Egli

Tage im Leben eines Feiglings by Werner J. Egli

Autor:Werner J. Egli [Egli, Werner J.]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Jugendroman
Herausgeber: Kyrene Verlag
veröffentlicht: 2014-05-10T22:00:00+00:00


Auf dem Heimweg waren wir beide wachsam. Ich war immer noch überzeugt davon, dass ich den Angreifer von gestern auch mitten in einer Menschenmenge entdeckt hätte, aber dazu hätte ich wohl die volle Konzentration gebraucht.

Wir kamen nicht sehr weit. Dort, wo man dabei war, neue Häuser zu bauen, fing Melanie plötzlich an zu weinen. Was der Auslöser für diesen Gefühlsausbruch war, weiß ich nicht. Sie weinte und lief weg von mir, zwischen zwei Bulldozern hindurch und an einer Absperrung vorbei zu einem Holzstapel hinüber.

Bei einer Tafel, auf der Betreten der Baustelle verboten stand, blieb ich stehen.

„Bist du blind?“, rief ich ihr zu.

Sie drehte den Kopf weg, aber ich konnte an ihren zuckenden Schultern sehen, dass sie nicht zu weinen aufgehört hatte. Ich zog die Stange, an der die Tafel festgemacht war, aus dem Boden, ging zu ihr und steckte sie direkt vor ihr wieder in den Boden.

Sie reagierte nicht darauf. Bemerkte es wahrscheinlich überhaupt nicht. Ich setzte mich neben sie. Berührte sie nicht. Hörte, wie sie leise schluchzte.

Es war so was wie die Fortsetzung von gestern. Oder wie in einem schlechten Film. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber mir war klar, dass sie ziemlich durcheinander war und wahrscheinlich Hilfe gebraucht hätte.

Ich ließ sie weinen, betrachtete die beiden Bulldozer am Straßenrand und einen Stapel Zementrohre. Die Baustelle war nicht gerade ein Platz, an dem man sich in Begleitung eines weinenden Mädchens wohlfühlen konnte. Ich hatte schon als kleiner Junge kein Interesse an monströsen Baumaschinen gehabt, und der reinste Horror war es gewesen, als mein Vater mir dabei helfen wollte, einen Lego-Bagger mit Fernsteuerung zusammenzubauen. Das Teil stand danach monatelang unbenutzt auf einem Regal in meinem Zimmer, bis es sich eines Tages in Luft auflöste.

„Mo, du musst mir was sagen“, schluchzte Melanie. Sie hatte sich zu mir umgedreht, ihr Gesicht nass von den Tränen und die Augen gerötet. Es konnte gar nicht sein, dass sie mir etwas vormachte. „Mo, du musst mir sagen, dass ich für dich keine Nutte bin.“

Für einen Augenblick blieb mir die Spucke weg. Ich sah sie an und sah, dass sie es ernst meinte. Kein Tussenzirkus. Sie war ziemlich kaputt, und das bestimmt nicht erst seit gestern Abend.

„Warum sollte ich das denken?“, fragte ich sie vorsichtig. Ich wollte jetzt keinen Fehler machen. Ja nichts Falsches sagen.

„Ruben hat mir gesagt, dass ich für ihn nichts anderes bin als eine Nutte.“

„Meli, du kennst ihn doch. Ruben kommt solches Zeug locker über die Lippen, ohne dass er nachdenkt, verstehst du?“

Sie suchte nach Worten. Quälte sich. „Es wäre auch für dich einfach, so etwas von mir zu denken.“

„Warum denn!“

„Weil du die Fotos gesehen hast.“

Ich sah zu den Bulldozern hin. Was sollte ich ihr antworten? Dass es mich tatsächlich gestört hatte, solche Fotos von ihr zu sehen? Dass ich das nie von ihr erwartet hatte? Nein, ich dachte nicht, dass sie eine Nutte sein könnte, aber das Mädchen, das sie für mich gewesen war, war sie nicht mehr. Nur, das konnte ich ihr nicht sagen, denn dann hätte ich es ihr erklären müssen, und das wollte ich nicht.



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