Stumme Herzen. Roman by Carla Guelfenbein
Autor:Carla Guelfenbein [Guelfenbein, Carla]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104902333
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
Nachdem ich diesen ersten Absatz gelesen hatte, ging ich in mein Zimmer, hängte meinen Rucksack an die Stuhllehne und setzte mich aufs Bett.
Vor dem Fenster gurrten die Tauben. Ich sah nach draußen und versuchte, innerlich wieder zur Ruhe zu kommen. Es dämmerte. Die Sonne war schon nicht mehr zu sehen. Ich schloss die Augen, um in der Dunkelheit in mir die Kraft zu finden, weiterzulesen. Ich wusste, dass ich auf den drei Seiten, die ich in den Händen hielt, die Antworten auf viele Fragen finden würde, die ich mir in der letzten Zeit gestellt hatte.
Ich habe diesen Brief schon zigmal geschrieben, und nie gelingt es mir, Dir zu sagen, was ich wirklich sagen will. Du weißt, wie ungeschickt ich mit Worten bin. Aber heute habe ich beschlossen, ihn abzuschließen und Dir zu schicken. Hast Du diesen Brief also bekommen, dann habe ich es geschafft, wenn auch wahrscheinlich mit recht unbefriedigendem Ergebnis.
Nun gut, Emi. Bitte höre mir geduldig zu und lies den Brief bis zu Ende. Verabscheue mich bitte weder für mein Schweigen noch für das, was ich Dir zu sagen habe.
Als die Idee für Deine Chile-Reise aufkam, freute ich mich darüber, aus den uns bekannten Gründen. Du würdest Deine Dissertation fertigschreiben, als Erwachsene das Land kennenlernen, in dem du zur Welt gekommen bist, und so weiter, wir haben oft darüber gesprochen. Aber es gibt viele andere Dinge, die wir nicht angesprochen haben. Die uns beiden bewusst sind.
Ich wusste, dass nach Deiner Abreise nichts mehr sein würde wie zuvor. Glaube nicht, dass ich es nicht auch fürchtete. Ich starb vor Angst bei der Vorstellung, dass diese Reise Dich verändern würde, Du bei Deiner Rückkehr meine Mittelmäßigkeit entdecken würdest. Ich wusste aber auch, nur fiel es mir schwerer, das einzusehen, dass sie mich ebenfalls verändern würde. Ich bin als kleiner Junge zu Euch ins Haus gekommen. Wir waren beide noch Kinder. Und Du warst so schön. Ich brauchte Dich. Ich wollte in der Welt leben, die sich hinter Deinen Wimpern verbarg. (Das mit der Welt hinter Deinen Wimpern stammt von Dir, ich weiß.) Ich kam in Euer Haus und verließ es nicht mehr.
Ich drehe mich im Kreis. Verzeih, Emi, ich merke nur gerade, dass ich Dir das alles noch nie gesagt habe. Der springende Punkt ist, dass wir beide uns gegenseitig brauchten und das geschaffen haben, was man eine »symbiotische Beziehung« nennt. Eine solche Symbiose mag für Bäume, Insekten und andere Tiere eine gute Einrichtung sein, aber für Menschen ist sie das nicht. Man kann unmöglich immer für den anderen da sein. Wie hart sich das anhört, nicht? »Unmöglich.« Aber das ist es, was ich begriffen habe, Emi. Dass Deine Reise nicht nur die Möglichkeiten eröffnete, von denen ich sprach, sondern auch andere, die wir vielleicht erahnten, aber nicht zu benennen wagten. Entschuldige, so sehr ich auch versuche, mich so schön auszudrücken wie du, verheddere ich mich nur noch mehr.
Du wusstest genauso gut wie ich, dass es geschehen könnte. Ich sagte es bereits, nicht wahr?
Emi, ich habe ein Mädchen kennengelernt. Ihr Name ist nicht wichtig, Du würdest nur lachen.
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