Straße der Wunder by John Irving

Straße der Wunder by John Irving

Autor:John Irving [Irving, John]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783257607147
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2016-03-22T16:00:00+00:00


Wie viele Ärzte mochten an diesem Silvesterabend wohl im Strandhotel Encantador übernachten? Ein dutzend, oder noch mehr? In Clark Frenchs philippinischer Familie gab es lauter Ärzte. Kein einziger von ihnen, und ganz bestimmt nicht Clarks Frau, hätte Juan Diego geraten, noch eine Dosis Betablocker ausfallen zu lassen.

Vielleicht hätten die Ärzte der Familie, die Männer – die Miriam gesehen, und besonders diejenigen, die mitbekommen hatten, wie sie den Gecko blitzschnell mit einer Salatgabel aufgespießt hatte –, na gut, die Männer hätten vielleicht zugegeben, dass eine 100-Milligramm-Tablette Viagra angeraten wäre.

{397}Doch was das Hin und Her zwischen doppelter (oder halber) und dem Weglassen der Lopressor-Pille anging – auf gar keinen Fall! Nicht einmal die Männer unter den Medizinern, die diesen Silvesterabend im Encantador feierten, wären damit einverstanden gewesen.

Als Miriam, wenn auch nur kurz, Lupes Tod zum Thema des Tischgesprächs machte, hatte Juan Diego an seine Schwester gedacht – wie sie die nasenlose Statue der Jungfrau Maria gescholten hatte.

»Zeig mir ein richtiges Wunder«, hatte Lupe die Riesin herausgefordert. »Tu irgendwas, damit ich an dich glauben kann – für mich bist du nichts als eine fürchterliche Tyrannin!«

Hatte das etwa bei Juan Diego die Erkenntnis ausgelöst, dass eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen der hoch aufragenden Jungfrau Maria im Templo de la Compañia de Jesús und Miriam bestand?

In diesem Augenblick der Unsicherheit berührte Miriam ihn unter dem Tisch – an seinem Oberschenkel, an den kleinen Knubbeln in seiner rechten vorderen Hosentasche. »Was haben wir denn da?«, flüsterte sie ihm zu. Rasch zeigte er ihr die Mah-Jongg-Kachel, den historischen Spielstein, doch ehe er zu seiner umständlichen Erklärung ausholen konnte, sagte Miriam: »Oh, nicht die – ich weiß von dem so ungemein inspirierenden Andenken, das du bei dir trägst. Ich meine, was hast du noch in der Hosentasche?«, murmelte Miriam.

Hatte Miriam etwa in einem Interview mit dem Autor von der Mah-Jongg-Kachel gelesen? Hatte Juan Diego die Geschichte dieses geliebten Erinnerungsstücks etwa den {398}alles trivialisierenden Medien gesteckt? Miriam schien auch über die Viagra-Tablette Bescheid zu wissen – etwa durch ihre Tochter? Von ihm selbst bestimmt nicht, oder etwa doch?

Die Tatsache, dass er nicht mit Sicherheit wusste, ob Miriam über das Viagra Bescheid wusste, ließ Juan Diego an den kurzen Dialog bei seiner Ankunft im Zirkus denken – als Edward Bonshaw, der Flor nur als Prostituierte kannte, erfuhr, dass sie ein Transvestit war.

Es war ein Versehen gewesen – durch die offenen Klappen eines Artistenzelts hatten sie Paco den Zwerg im Fummel gesehen, und Flor hatte zu dem Mann aus Iowa gesagt: »Ich sehe nur gefälliger aus als Paco, Süßer.«

»Hat der Papageienmann begriffen, dass Flor einen Penis hat?«, hatte Lupe (von Juan Diego unübersetzt) gefragt. Offenbar hatte el hombre papagayo sich über Flors Penis Gedanken gemacht. Flor, die wusste, was Señor Eduardo dachte, flirtete nun intensiver mit dem Amerikaner.

Schicksal ist alles, überlegte Juan Diego – er dachte an das kleine bezopf‌te Mädchen, Consuelo, und wie sie »Hi, Mister« gesagt hatte. Wie sehr sie ihn an Lupe erinnerte!

Wie Lupe mehrmals zu Hombre gesagt hatte: »Es wird schon wieder.«

»Man sagt, du magst Peitschen«, sagte Flor leise zu dem humpelnden Missionar, der an beiden Sandalen Elefantenscheiße hatte.



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