Stahlstiche by Raddatz Fritz J

Stahlstiche by Raddatz Fritz J

Autor:Raddatz, Fritz J. [Raddatz, Fritz J.]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-644-03401-3
veröffentlicht: 2013-11-11T05:00:00+00:00


DIE ZEIT, 28. 10. 1999

Prophet des Zeitgeistes

Über Jean-Paul Sartre

Am 29. Oktober 1945 – zwei Wochen nach der Bildung einer Regierung durch Charles de Gaulle, in die er unter anderen den kommunistischen Résistancekämpfer André Malraux eingebunden hatte – erlebte Paris eine Sensation. Zu einem Vortrag mit dem abstrakten Titel «Der Existentialismus ist ein Humanismus» strömt in einen der größten Säle der Stadt nicht nur alles, was im intellektuellen Leben Rang und Namen hat, sondern es drängen solche Menschenmassen, ohne zu zahlen, an den Eintrittskassen vorbei, daß Stühle zu Bruch gehen, Besucher in Ohnmacht fallen und der Vortragende seinen Platz erst mit einstündiger Verspätung erreicht. Der Mann heißt Jean-Paul Sartre und ist «der neue Star», wie Hans-Martin Schönherr-Mann schreibt. Sartre ist ein 40jähriger Schriftsteller, dessen Roman «Der Ekel» Furore gemacht hatte wie sein noch unter deutscher Besatzung uraufgeführtes Stück «Die Fliegen». Er kommt gerade von einer zweimonatigen USA-Reise zurück, auf der ihn Präsident Roosevelt empfing, zwei neue Romane – «Die Zeit der Reife» und «Der Aufschub» – erscheinen in kurzer Folge, und der Verlegerfürst Gallimard hat für ihn eine eigene Zeitschrift «Les Temps Modernes» gegründet, deren Direktor er ist und in deren Redaktion er Albert Camus, Raymond Aron, Simone de Beauvoir und Maurice Merleau-Ponty bittet. Sartre ist wie ein Komet am Intellektuellenhimmel aufgeschienen, bald wird man ihn und seine Gefährtin Simone de Beauvoir «das Literatenstar-Paar des 20. Jahrhunderts» nennen; unser Autor summiert den jähen Aufstieg: «In den letzten Monaten des Jahres 1945 erlebten die Franzosen jedenfalls einen ungeheuren Sartre-Boom, der zwischen begeisterten Anhängern der neuen Philosophie und ihren kommunistischen, vor allem aber konservativen Kritikern auch in wüste Beschimpfungen ausartete.» Wohl wahr. Bereits 1948 wurde Sartres gesamtes Werk vom Vatikan auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt.

Was war die Schockwirkung dessen, was alsbald als «Existentialismus» in aller Munde war und das – wie wohl nie zuvor und nie danach – mehr als Lebensform begriffen und praktiziert wurde denn als strenge Denkdisziplin? Die vielfach zitierbaren und variablen Denksprüche Sartres – «Frei sein heißt zum Freisein verurteilt sein»; «frei sein ist frei-sein-um-zu-verändern, um-zu-handeln» – wurden nach Jahrzehnten der Unfreiheit weniger nach-gedacht als nach-gelebt. Ein Philosophie-Tsunami war losgebrochen. Es war generell mehr ein Impuls: Elend, Zwang, Hunger, Folter, Kanonendonner – also Leben in Zwang – waren vorbei; und da kam eine Art Prophet, der die ersehnte, jetzt jäh angebrochene Zeit der großen Freiheit artikulierte. In tausend Rinnsalen verbreitete sich Sartres Gedankengut – bis in die Mode hinein (schwarze Lidschatten); bis in den äußeren Habitus hinein (ohne schwarzen Rollkragenpullover hätte man nicht Einlaß gefunden in die verräucherten Existentialistenkeller von Saint-Germain); bis zu den Chansons der schwarz gekleideten, schwarz frisierten Ikone Juliette Gréco, deren Stimme gar schwarz klang. Jener komplizierte Gedanke, daß Freiheit ein so anstrengender wie beängstigender Akt der Selbstschöpfung sei, der der Mensch zeitlebens sowohl ausgeliefert ist – «zur Freiheit verurteilt» nennt Sartre das – wie der sie stets sich neu erkämpfen muß: das fand europaweit eine geradezu epidemisch sich ausbreitende Säkularisierung – daß der Mensch aufgerufen sei, «sich zu machen, statt zu sein» zelebrierte man



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