Sprache und Sein by Kübra Gümüsay
Autor:Kübra Gümüsay
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783446266896
Herausgeber: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2019-11-17T16:00:00+00:00
Ich höre relativ spät vom Attentat. Das erste Mal schaue ich morgens auf dem Weg zur Kita auf mein Handy, als mein Sohn beschließt, noch ein paar zusätzliche Runden mit dem Fahrrad durch den Park zu drehen. Während ich warte, lese ich die Nachricht einer Freundin, die ihr Entsetzen über das Attentat ausdrückt. Und mich fragt, wie es mir damit geht.
Ich weiß nicht, wie es mir geht. Ich weiß nur, dass ich mir keine Gedanken dazu machen darf und kann, weil ich noch ein paar Minuten funktionieren und eine glückliche Welt mimen muss. Ich drücke die Nachricht weg und versuche, hier zu sein, im Moment, bei meinem Sohn. Der Angst keinen Eingang in unser Alltagsleben zu gewähren. Erst nachdem wir uns beide zum Abschied auf die Stirn geküsst haben, wie wir das jeden Morgen tun, kann ich mich dem widmen, was geschehen ist.
Ich lese die Nachrichten. Überall taucht das Video des Attentäters auf, automatisch beginnen Szenen zu spielen, in denen Menschen schreiend, weinend oder starr vor Angst inmitten des Blutbads stehen. Mir schießen Tränen in die Augen. Aber ich sitze in einem Zug, ich möchte unter fremden Menschen nicht weinen. Ich möchte kein Mitleid. Ich möchte nicht erzählen müssen. Ich möchte nicht erklären, wie und warum mir das nahegeht. Es haben sich schon so viele nackt in die Mitte gestellt, ihre Wunden gezeigt und wurden dafür verhöhnt. Es braucht keine neuen Geschichten, es ist alles bekannt. Der Hass ist für alle sichtbar, sie müssen nur hinsehen.
Wir müssen Menschen nicht erst leiden sehen, um sie als Menschen zu erkennen.
Als im Mai 2019 in Alabama das restriktivste Abtreibungsgesetz der USA verabschiedet wurde, rief die Schauspielerin und Produzentin Busy Philipps Frauen dazu auf, auf Twitter unter dem Hashtag #youknowme von ihren Abtreibungen zu berichten.12 Tausende teilten ihre Erfahrungen, doch es wurden auch Stimmen laut, die sagten: Ich muss nicht meine Erfahrung preisgeben, meine Geschichte erzählen, damit andere mich als Menschen erkennen. So schrieb die feministische Aktivistin Sara Locke: »Die Sache ist die: #youknowme, aber ich schulde dir nicht meine Geschichte. Ich schulde dir nicht meinen privaten Schmerz (…), damit du mich als Person anerkennst. Du schuldest mir Respekt und Selbstbestimmung über meinen Körper.«13
Einmal hatte ich meinen Schmerz gezeigt. Das war 2016, als ich einen Vortrag über den Hass im Netz hielt und »Organisierte Liebe« forderte.14 An diesem Tag konnte und wollte ich nicht mehr so tun, als ob es nicht schmerzen würde. Schon beim Schreiben hatte ich geweint, immer wieder. Also übte ich im Hotelzimmer meinen Text. Gefühlvoll, ja, aber ohne expressive Emotionen sollte er sein. Keine Träne sollte meine Augen verlassen. Fünf Mal las ich meinen Text. Beim sechsten Mal waren meine Augen trocken.
Auf der Bühne kämpfte ich. Hielt inne. Setzte erneut an. Unter Tränen. Hielt wieder inne. Und ließ die Tränen schließlich laufen – unterdessen raste ich im Höchsttempo durch den Text. Und schämte mich. Den Applaus des Publikums nach meinem Vortrag konnte ich nicht annehmen. Wollte ich nicht annehmen.
Ich nahm mir vor, meine Tränen nie wieder in der Öffentlichkeit zu zeigen.
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