Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer by Tobor Alexandra

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer by Tobor Alexandra

Autor:Tobor, Alexandra [Tobor, Alexandra]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783843702898
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH
veröffentlicht: 2012-06-07T22:00:00+00:00


17.

Lambada

Es war unser erster Winter ohne Schnee. Papa brauchte keine Russenmütze mit Ohrenklappen und Mama keinen Pelzmantel mehr, und ich würde nie wieder dick eingepackt wie Juri Gagarin in weißen Schneelandschaften versinken. Obwohl dieser Umstand mit ungekannter Bewegungsfreiheit einherging, vermisste ich die Möglichkeit, den Schlitten aus Omas Keller zu ziehen. Ich vermisste sogar den giftigen, stinkenden Rauch, der an polnischen Dezembertagen aus den Schornsteinen kroch. Zum Glück gab es etwas, das die Trübseligkeit vertrieb, weil es aus einer Welt kam, in der immer Sommer war: Es trug den exotischen Namen »Lambada«. Immer wenn ich Frau Ogórkowa besuchte, schob sie für mich eine Kassette in den Videorekorder, die mit »Teledyski« beschriftet war. Sie enthielt verschiedene aus dem Fernsehen aufgenommene Musikvideos. Lambada war ein Lied, eine Mode und ein Tanz, aber vor allem war es ein neuartiges Gefühl, ausgelöst von zwei Kindern, die vor südländischer Meereskulisse die Hüften kreisen ließen. Das Mädchen hatte eisblaue Augen und lange blonde Haare, und der Junge, der sie im Tanz eng umschlungen hielt, war schwarz. Während eine Frau mit Vogelnest auf dem Kopf die melancholische Melodie sang, tanzten die beiden inmitten fliegender Röcke von der Farbe sonnengereifter Zitronen. Als würden die sichtbaren Pobacken der erwachsenen Frauen sie nicht beschämen, als wäre es egal, dass sie nicht die gleiche Hautfarbe hatten, als spielte es keine Rolle, dass das Mädchen einen Kopf größer war als ihr dunkelhäutiger Tanzpartner. Sie tanzten wie Erwachsene, Stirn an Stirn, mit einer rätselhaften Sehnsucht im Blick.

Zwar wusste ich, dass es außer der Liebe zu Gott und der Vaterlandsliebe auch die Liebe zwischen Mann und Frau gab. Aber für Kinder war diese Liebe verboten, und selbst die Erwachsenen hörte man selten darüber reden. Dorota Ogórkowa war eine große Ausnahme. Bei ihr durfte ich das Video, das meine Mutter »unanständig« fand, so oft schauen, wie ich wollte. Es war unser Geheimnis, genau wie die Zigarette, an der sie mich einmal spaßeshalber hatte ziehen lassen.

Unser Zimmer war erfüllt vom Duft spritzender Mandarinen. Wir saßen im Schein brennender Teelichter, als Mama mich bat, den Müll rauszutragen. Um es so schnell wie möglich hinter mich zu bringen, schlüpfte ich in Mamas riesige Latschen und schlappte zum Müllcontainer. Als sich meine Augen zufällig vom Boden lösten, erblickte ich im grellgelben Licht der Laterne einen Jungen, der mit einer Dose Flirt in der Hand vor den Müllcontainern auf und ab ging. Obwohl ich mich plötzlich für die Latschen an meinen Füßen schämte, steuerte ich schnurstracks auf den Container zu. Ohne den Jungen eines Blickes zu würdigen, geradezu als wäre er unsichtbar, schob ich den Containerdeckel hoch und ließ den Müllsack hineinplumpsen.

»Hey, wohnst du hier?«, fragte der Junge auf Polnisch. Der Wind hatte mich zu ihm gedreht wie einen willenlosen Wetterhahn, so dass ich ihm direkt ins Gesicht sehen musste. Ein Gewühl von Löckchen, luftigen Wirbeln und schmalzigen Spiralen wand sich auf seinem Kopf. Er sah etwas älter aus als ich, und seine Haut war dunkler als bei den kränklich blassen Polenjungen, die verstohlen durch die Gänge der Grundschule schlichen. Er



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