Schlehweins Giraffe. Roman by Bernd Schirmer

Schlehweins Giraffe. Roman by Bernd Schirmer

Autor:Bernd Schirmer [Schirmer, Bernd]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105604786
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-09-18T16:00:00+00:00


XVI

Was war, frage ich, die schönste Zeit deines Lebens? War es die Kindheit, in der du im Leipziger Zoo herumstandest, behütet von deiner Giraffenmutter? Waren es die sonnigen Sommertage in Schlehweins großem Garten, zwischen den wuchernden Brennesseln und den Apfelbäumen? Oder waren es gar deine Wanderjahre im Zirkus, über die du dich so hartnäckig ausschweigst, deine Auftritte, deine Kunststückchen, deine Dressurnummern, das Streicheln des Dompteurs, der Beifall des Zirkuszelts, der dich umtoste, die Sonderrationen und kleinen Leckerbissen nach den Vorstellungen?

Die Giraffe schaut mich aus blöden Augen an, stumpfsinnig die Haferflocken wiederkäuend. Manchmal denke ich, die Giraffe kann gar nicht sprechen, und selbst ihre gestammelten Worte wie Konolialismus habe ich mir nur eingebildet.

Meine schönste Zeit ist gewesen, sage ich, als ich Kristina wiedergefunden habe, es war in jenem Herbst, von dem einige Leute noch heute schwärmen. Es war der Anfang vom Ende, wir hatten es nicht mehr für möglich gehalten, wir waren schon aus dem Alter heraus, wir hatten alle Hoffnung fahren lassen, vor allem Schlehwein, dein Freund und Gönner, er saß im Oderbruch und sammelte Pferdeäpfel für seine Tomatenzucht. Der Sommer war schwer und lastend gewesen, voll dumpfer Ängste. Scharenweise waren die Landeskinder außer Landes gegangen, und wir hatten nächtelang beieinandergesessen und geredet und geredet wie in den alten Zeiten, es war vielleicht zum letztenmal, jetzt hat jeder nur noch mit sich selber zu tun. Bröckle war verzweifelt. Sie sind blind, sie sind taub, sagte er, sie nehmen die Telefonhörer nicht mehr ab. Er hat einmal sogar geheult vor Wut. Es klingelt Sturm, und sie machen die Türen nicht mehr auf, und sie nehmen die Hörer nicht mehr ab, die starrsinnigen alten Männer, sagte Bröckle. Und war selber schon fast ein alter Mann an der Seite von Lydia, seiner viel zu jungen Frau. Später, als Reformen plötzlich noch möglich schienen, sagte er sarkastisch, und auch diesen Satz habe ich mir gemerkt: Der Beton für die Reformen ist schon angerührt. Aber was geschehen ist in diesem Herbst, ist alles schon aufgeschrieben, es steht in den Zeitungen, die bereits vergilben; wir können das getrost Kleingrube überlassen, er wird’s gesammelt haben, er wird’s richten.

Ich sah Kristina in der Kirche wieder, es war ein Friedensgebet. Wir waren beide keine Kirchgänger, wir waren aus Neugier hingegangen. Wir hatten uns aus den Augen verloren, seit sie Ralph B. Schneiderheinze für mich gehalten und für mich genommen hatte. Nun hielt sie, während wir die Lippen bewegten, um einen Choral mitzusingen, von dem wir weder Text noch Melodie kannten, hielt sie mich für Ralph B. Schneiderheinze und winkte mir zu und flüsterte, als sie sich durch die dichten Reihen der jungen Leute gedrängt hatte: Du bist also doch gekommen. Ich sah sie an, ich verstand sie nicht. Ich verstand alles erst später. Schneiderheinze traute sich nicht in die Kirchen, er fühlte sich beobachtet. Er wollte sein Werk nicht gefährden. Er wollte nicht riskieren, daß sein Buch, mit dem er die Wende vorbereiten wollte, nicht erscheinen würde, wenn er sich in den observierten Kirchen blicken ließ. Lieber nahm er an der Wende nicht teil.



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