Schalom by Carl Hanser Verlag

Schalom by Carl Hanser Verlag

Autor:Carl Hanser Verlag
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
ISBN: 9783446240957
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


16

Die Radionachricht von dem verunglückten Bus im Norden und von dem noch nicht identifizierten Toten, der offenbar von niemandem vermisst wurde, zog auch die Aufmerksamkeit Professors Sads auf sich und er hörte gespannt zu.

Dieses Ereignis hätte gut in den Kurs gepasst, den er seinerzeit über russische Literatur im 19. Jahrhundert gehalten hatte. Turgenjew, Lermontov oder Dostojewski hätten daraus eine wunderbare Erzählung über überflüssige Menschen gemacht. Niemand suchte nach ihm und niemand gab eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf. Ganz einfach überflüssig! Bei der Polizei hatten sie schon verschiedene Theorien: Es konnte ein Obdachloser sein, ein Fremdarbeiter, ein Tourist oder jemand, der einsam und kinderlos gelebt hatte.

Professor Sad erschrak, als der Sprecher zu einer neuen Nachricht überging, er schaltete das Radio ab und erhob sich von seinem Sessel. Die Beschreibung »ein kinderloser Mann« konnte auch auf ihn passen. Wer würde ihn vermissen, wenn er, Gott behüte, Opfer eines solchen Unfalls würde? Kein Mensch hätte ihn bei der Polizei als vermisst gemeldet. Vielleicht hätte Frau Silber gemerkt, dass er von der Bildfläche verschwunden war, sie hätte sich vielleicht sogar gewundert, aber hätte sie die Polizei angerufen? Auf diese Idee wäre sie bestimmt nicht gekommen. Und überhaupt, er könnte auch ohne Unfall tot in diesem Haus liegen, aus vielen Gründen, und kein Mensch würde es merken, bis er beginnen würde zu stinken. Früher hätten die Studenten seine Abwesenheit gemeldet, wenn er nicht zum Unterricht gekommen wäre, aber seit der Pensionierung wurde er von niemandem erwartet, und kein Mensch würde merken, ob er an der Universität war oder nicht. Den Bibliothekarinnen, die er ab und zu in Anspruch nahm, würde er mit Sicherheit nicht fehlen, und wenn sie seine Abwesenheit überhaupt registrierten, würden sie sich höchstens freuen, dass sie seine Belästigungen los waren.

Da er gerade die Bibliothek im Kopf hatte, schaute er zur Uhr. Wenn er jetzt losging, hätte die Bibliothek bereits geöffnet, wenn er dort ankam. Er nahm seine Tasche, steckte die Karten, die auf dem Tisch lagen, in den Umschlag, steckte den Umschlag in seine Tasche, die Tasche klemmte er unter den Arm und ging zur Tür. Als er die Treppe hinunterstieg, hörte er, wie unten bei Frau Silber der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, und fragte sich, ob sie soeben zurückgekommen war oder weggehen wollte. Aber ein Blick auf die Uhr belehrte ihn. Um diese Zeit kamen nur Nachtarbeiter nach Hause. Als er den Treppenabsatz erreicht hatte, blieb er kurz stehen, überlegte, ob er es auf eine Begegnung ankommen lassen sollte oder lieber warten, bis sie das Haus verlassen hatte. Doch bevor er sich entschlossen hatte, rebellierten seine Beine und setzten den Weg von allein fort. Da hörte er auch schon Frau Silbers Stimme, sie stand in der Tür zu ihrer Wohnung.

»Guten Morgen, Professor Salzbad.«

Wieder nannte sie ihn mit seinem alten Namen. Und was war an diesem Morgen so gut? Wieso strahlte sie so? Sie stand in der Tür ihrer Wohnung, gepflegt und zurechtgemacht wie immer, die Einkaufstasche in der Hand.

»Ich bin nicht sicher, dass dieser Morgen so gut ist«, sagte er.



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