Samarkand by Olga Kharitidi

Samarkand by Olga Kharitidi

Autor:Olga Kharitidi [Olga Kharitidi]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783843707909
Herausgeber: Ullstein
veröffentlicht: 2015-08-07T16:00:00+00:00


Kapitel sieben

Bald erreichten wir den Rand des Tals, und ich sah ein Haus auf dem Hügel. Es war ein typisch usbekisches Haus aus weiß gekalkten Ziegelsteinen, umgeben von schlanken Pappeln. Ein einfaches Hinweisschild mit der Aufschrift: »Museum« hing an der geschlossenen Tür. Michael suchte sich einen runden weißen Stein in der Nähe einer Pappel und setzte sich darauf.

»Dies ist ein Ort, an dem man Geschichten erzählt«, sagte er. »Sie haben angefangen, mir Ihre Geschichten zu erzählen, und jetzt werde ich Ihnen, wie versprochen, meine Geschichten erzählen.«

Ich schaute mich um, doch es gab keinen weiteren Stein, der zum Sitzen geeignet war. Dann entdeckte ich in der Nähe der Museumstür eine kleine Holzbank und setzte mich darauf, knapp zwei Meter von Michael entfernt. Die Entfernung war für ein Gespräch nicht sehr angenehm, aber da ich nichts daran ändern konnte, beschloss ich, mich nicht weiter daran zu stören.

»Die Geschichte, die Sie mir gerade erzählt haben, liegt wie eine Schicht über Ihrer Trauer. Sie sind tiefer in den Raum eingedrungen, aus dem Ihr trauriges Gefühl entspringt, und haben diese Erinnerung wiedergewonnen. Das war sehr wichtig, und Sie haben es gut gemacht. Es ist nicht die Geschichte eines Kindes über den Verlust einer Katze. Sie glauben, sich schuldig gemacht zu haben, weil Sie Ihre Katze nicht gerettet haben. Sie glauben, Sie hätten anders handeln können, und dann wäre die Katze gerettet worden. Heute wissen Sie wahrscheinlich, dass ein fünfjähriges Kind in einer solchen Situation wenig ausrichten kann, aber das spielt sich in Ihrem Kopf ab. Ihr Gefühl sagt Ihnen, dass Sie schuldig sind.«

Ich nickte zustimmend.

»Die Tatsache, dass das Trauma irreversibel ist, macht es noch schmerzlicher«, fuhr Michael fort. »Die Unumkehrbarkeit gibt Ihnen ein Gefühl der Machtlosigkeit. Es tut so weh, weil Sie sich die Schuld daran geben, den Tod nicht verhindert zu haben, und weil Sie den Tod nicht rückgängig machen können. Das ist der Faden, der zu etwas führt, das im Kern Ihres Traumes liegt und an das Sie sich als Nächstes erinnern müssen.«

Seine Worte machten mich nervös, doch ich hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen.

»Ich möchte Ihnen etwas sagen. Das Trauma ist nicht so irreversibel, wie Ihr Kopf es annimmt. Das Gefühl der Unumkehrbarkeit resultiert aus Ihrem begrenzten Verständnis von der Bedeutung des Todes. Hier brauchen Sie keine Angst vor dem Tod zu haben, obwohl dieser Ort viel mit dem Tod zu tun hat. Dieser Ort gehört zu den wenigen, wo Menschen bewusst mit dem Tod arbeiten, und sie haben im Laufe der Zeit eine Menge Erfahrungen gesammelt. Diese Menschen wissen, dass das Wesen von Traum und Tod ein und dasselbe ist, dass der Unterschied nur in der Intensität liegt. Sie haben hier vor allem mit Träumen gearbeitet, weil sie dadurch lernten, den Tod zu kontrollieren.«

»Die Menschen können den Tod nicht kontrollieren. Der Tod ist nicht kontrollierbar«, sagte ich.

»Natürlich können sie das. Der Tod ist eine subjektive Erfahrung. Wenn man Angst vor dem Tod hat, ist das nicht die Angst davor, dass einem etwas wehtut. Man fürchtet sich davor, wie man das empfindet, was man Tod nennt.



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