Roman unserer Kindheit by Klein Georg

Roman unserer Kindheit by Klein Georg

Autor:Klein, Georg [Klein, Georg]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Herausgeber: rowohlt
veröffentlicht: 2012-10-21T13:46:20+00:00


Ich weiß, was nun geschieht. Und mir ist alles andere als wohl dabei. Aber mir kommt nicht in den Sinn, den Älteren Bruder deswegen zurück auf die grüne Couch oder gar wieder in seine Karre hineinzulocken. Ich bin nicht Jesus. So weit mein Sommer reicht, wird mir kein hoher Vater, kein Himmelspapi abverlangen, die Welt nach seiner höheren Ordnung zurechtzurücken. «Ich bin nicht Jesus!», sagt der alte Doktor Junghanns nicht ohne Spott, nicht ohne ein Gran Tadel, wenn ein Patient, der es mit dem Gesundwerden besonders eilig hat, nach einem extrastarken Mittel, nach einem Wunderwässerchen aus dem Geheimschrank des Apothekers im Elsternhorst verlangt. «Leider bin ich nicht Jesus!», sagte er auch vorhin im grünen Block in einem anderen, in einem männlich mürben, dabei nicht ungalanten Tonfall zu Frau Roser, als diese zum ersten Mal ohne Beschönigung über das Ausmaß ihrer Schmerzen sprach. Heute sei es so arg wie nie. Ob sie sich rühre oder nicht, allein vom bloßen Liegen täten ihr der Rücken und die Glieder entsetzlich weh. Der Doktor nickte. Über die Stärke der Schmerzen, auch über deren Allgegenwart brauche sie sich nicht zu wundern. Sie könne sich ja denken, dass ihr spätes, überreifes Brustkind sie mit vielen kleinen Enkeln ausgestattet habe, die inzwischen, wie es nun mal ihre Art sei, allerlei groben Unfug in den Knochen trieben.

Als ihn Frau Roser fragte, ob sie sich die Wirbelsäule, wie es Sohn und Schwiegertochter wünschten, durchleuchten lassen solle, riet er ihr entschieden davon ab, dieser Rasselbande mit Röntgenstrahlen hinterherzuforschen. Sie spüre doch auch so, wie viele es inzwischen seien und wie endgültig rücksichtslos sie in ihrem Körper aufzuspielen angefangen hätten. Er sei nicht Jesus, aber er sei zweimal im Krieg gewesen, also wisse er, was wirklich gegen Schmerzen helfe. Die nötige Ampulle habe er dabei. Die ganzen letzten Male, den ganzen Sommer lang, sei sie, hier in seiner Tasche, mit ihm zu ihr ans Bett gewandert. Und jetzt, wo der August in seine Abschiedsrunde gehe, sei der Moment gekommen, dem Glasding den dünnen Hals zu brechen.

Während Frau Roser zusieht, wie zittrig und routiniert ihr Hausarzt die Nadel in eine ihrer hochgewölbten Adern schiebt, hebt unser großer Bruder unten am Rosenhang den Kopf. Sein Blick braucht gar nicht lang nach einem Ziel zu suchen. So weit sind sie noch nie den Berg hinab und zugleich Richtung Bärenkeller vorgestoßen. Das fehlende Wegstück schräg hinüber, wieder hinauf, hinauf zur Mauer, die den Biergarten der verlassenen Wirtschaft umschließt, erscheint ihm plötzlich verlockend kurz. Hier ist der Hang zudem nur karg bewachsen, mit gelblichem, fast weiß verdorrtem Gras, platt auf den harten Grund gedrückt wie Haar auf einen Greisenschädel. Bis dorthin will er es nun schaffen. Der Ältere Bruder reckt das Kinn. Er wirft sich in die Brust. Er will, bevor das Stelzen losgeht, bevor ihm die gewiss zu früh erschöpften Arme beben, bevor er womöglich mit einem der Gummipfropfen in einem Mausloch hängen bleibt und auf die Nase knallt, bevor er vielleicht doch noch vor den anderen losheult, ein möglichst gutes Beispiel geben.

Frau Roser ist indes am Staunen.



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