Reality-Show by Amélie Nothomb

Reality-Show by Amélie Nothomb

Autor:Amélie Nothomb
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2012-02-29T23:00:00+00:00


Zdena beobachtete diese Annäherung. Ihr gefiel das nicht. Am meisten ärgerte sie die Vorstellung, daß dieses Nichts, das sie, wenn ihr danach war, jederzeit verprügeln oder in den Tod schicken konnte, die größte Macht überhaupt besaß: der, die ihr nicht aus dem Kopf ging, zu gefallen. Sie wußte nur nicht genau, wie.

Zdena spürte die Versuchung, EPJ 327 aus der Reihe der Lebenden zu holen: Warum nicht die Konkurrenz ausschalten? Nur die Einsicht, daß er keine Konkurrenz für sie war, hinderte sie daran. Das hier war kein Turnier. Sie hielt es für klüger, seine Methoden zu studieren. Nur war ihr leider klargeworden, daß er zu der Sorte gehörte, die mit Worten verführte.

Und da war sie ihm unterlegen. Sie hatte sich nur ein einziges Mal in ihrem ganzen Leben für beredt gehalten: vor den Kameras von »Konzentration«, als sie sich dem Publikum vorstellte. Und wie das ausging, hatte sie ja gesehen.

Wie jeder Versager verachtete sie Menschen, die in dem brillierten, worin sie gescheitert war.

»Schönschwätzer« – so nannte sie diese Sorte -waren die Pest. Was fand Pannonica bloß an diesem Blabla, diesem Gegurre? Daß ein Gespräch auch einen Inhalt haben konnte, war ihr fremd. Leute, die quatschten, hatte sie in ihrer Jugend zur Genüge gekannt, die Leere ihrer wechselseitigen Monologe hatte sie noch im Ohr. Das war nichts für sie. Pannonica hatte sie in Bann geschlagen, ohne den Mund zu öffnen.

Doch entgegen ihren Überzeugungen mußte sie sich eingestehen, wie ergriffen sie von ihrer Stimme und der Wirkung ihrer Worte gewesen war.

›Das ist was anderes‹, sagte Zdena zu sich selbst. ›Die quatscht nicht. Wenn jemand redet, um was zu sagen, ist das schön.‹

Da keimte in ihr ein Verdacht: Womöglich redete EPJ 327 mit Pannonica, um ihr was zu sagen. Damit hatte er sie also gekriegt! Der Dreckskerl hatte was zu sagen!

Sie durchforstete ihr Inneres, ob sie »was zu sagen« hätte. Der Schock, den Pannonicas Worte in ihr hervorgerufen hatten, ließ sie eine Regel begreifen: »Was zu sagen« hieß, daß nichts daran überflüssig war, sondern daß man dadurch wichtige Informationen erhielt, die einen fürs Leben prägten.

Zdena war bestürzt, als sie in sich nichts fand, was dieser Beschreibung entsprach.

›Ich bin hohl‹, dachte sie.

Pannonica und EPJ 327 waren nicht hohl, das konnte man merken. Als Zdena diesen Unterschied erkannte, diesen Abgrund, der sie von ihnen trennte, litt sie entsetzlich. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß auch die anderen Kapos, die Organisatoren, die Zuschauer und viele Gefangene hohl waren. Erstaunlich: Es gab viel mehr hohle Menschen als volle. Warum?

Das wußte sie nicht. Aber das Problem, das sie nun nicht mehr losließ, war: etwas zu finden, das ihre innere Leere füllte.

Der einzige Vorteil der Gefangenen war, daß sie als einzige nie auch nur eine Sekunde lang »Konzentration« gesehen hatten.

»Ich frage mich, welche Stellen das Publikum am meisten interessieren«, sagte MDA 802 während des Abendessens.

»Die Hinrichtungsszenen, da bin ich mir sicher«, sagte ein Mann.

»Das ist zu befürchten«, schloß Pannonica sich an.

»Gewalt«, meinte eine Frau. »Prügel, Gebrüll, dabei können sie sich abreagieren.«

»Wahrscheinlich«, sagte MDA 802. »Aber Gefühle kommen bestimmt auch gut an.



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