Rausch der Verwandlung by Stefan Zweig

Rausch der Verwandlung by Stefan Zweig

Autor:Stefan Zweig [Stefan Zweig]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-02-29T23:00:00+00:00


Die ganze Nacht bleibt Christine regungslos auf dem Sessel vor dem Tisch sitzen. Ihre Gedanken gehen dumpf im Kreise, um das einzige Gefühl herum, daß alles zu Ende ist. Es wird kein klarer und faßbarer Schmerz, es bleibt nur ein Betäubtsein, innerhalb dessen sie unterirdisch etwas geschehen schmerzhaft fühlt, so wie man bei einer Operation noch durch die Anasthäsie unbestimmt das brennende Messer fühlt, das den Leib zertrennt. Denn etwas geschieht, während sie stumm sitzt, die Augen wie leere Löcher auf den Tisch gebrannt, etwas das ihr Bewußtsein in seiner Lähmung nicht versteht, und dies ist: das neue, das andere Wesen, dieses künstliche und doppelte der neun traumhaften Tage, jenes unwirkliche und doch wirkliche Fräulein von Boolen stirbt wieder in ihr ab. Noch sitzt sie im Zimmer jener andern mit dem Körper jener andern, ihre Perlen um den gefrorenen Hals, einen scharfen Strich Karmin auf den Lippen, ihr libellenleichtes geliebtes Abendkleid über den Schultern, aber schon schauert es fremd über ihrem Leib wie ein Laken auf einem Leichnam. Es gehört nicht mehr zu ihr, nichts von hier, von dieser andern, dieser obern, seligeren Welt gehört mehr zu ihr, alles ist neuerdings fremd und geborgt wie am ersten Tag. Neben ihr steht weiß und glatt gefaltet mit zarten Daunen das Bett, blühende Weiche und Wärme, aber sie legt sich nicht hin: es gehört nicht mehr ihr. Rings leuchten die Möbel, atmet stumm der Teppich, aber all dieses Rundum von Messing, Seide und Glas empfindet sie nicht mehr als sich zugehörig, nicht den Handschuh an der Hand, nicht die Perlen um den Nacken – alles gehört jener andern, jener gemordeten Doppelgängerin, Christiane von Boolen, die sie nicht mehr ist und dennoch ist. Immer wieder versucht sie wegzudenken von diesem künstlichen Ich an ihr wirkliches, sie zwingt sich zu erinnern an die Mutter, daß sie krank war oder vielleicht tot, aber so gewaltsam sie ihr Gefühl auch hinstößt, es gelingt ihr kein Schmerz, keine Sorge, ein Gefühl überschwemmt alles andere, ein Zorn, ein dumpfer, gekrampfter, ohnmächtiger Zorn, der nicht heraus kann und eingesperrt murrt, ein unermeßlicher Zorn – sie weiß nicht gegen wen, gegen die Tante, gegen die Mutter, gegen das Schicksal, Zorn eines Menschen, dem ein Unrecht geschehen. Nur daß man ihr etwas genommen hat, empfindet ihre gepeinigte Seele, nur daß sie fort muß aus diesem selig beflügelten Ich in eine dumpf am Boden kriechende blinde Larve; nur daß etwas vorbei ist, unwiderruflich vorbei.

Die ganze Nacht sitzt sie so, eingeeist in ihrem Zorn auf ihrem hölzernen Sessel. Sie hört nicht durch die gepolsterten Türen das Leben der andern in diesem Haus, den unbesorgten Atem der Schlafenden, das Stöhnen der Liebenden, das Ächzen der Kranken, das unruhige Auf-und Abwandern der Schlaflosen, sie hört nicht durch die verschlossene gläserne Tür den Wind, der schon morgendlich um das schlafende Haus geht, nur sich spürt sie, ihr Alleinsein in diesem Zimmer, diesem Haus, diesem Weltall, ein Stück atmenden zuckenden Fleisches, noch warm wie ein abgerissener Finger und doch sinnlos und ohne Kraft. Es ist ein hartes



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