Poesie und Gewalt by Gleichauf Ingeborg

Poesie und Gewalt by Gleichauf Ingeborg

Autor:Gleichauf, Ingeborg
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: RAF, Rote Armee Fraktion, Nachkriegsdeutschland, Deutscher Herbst, Achtundsechziger, 68er, Linksextremismus, Biografie, Politik, Zeitgeschichte
Herausgeber: Klett-Cotta
veröffentlicht: 2017-01-14T16:00:00+00:00


Kapitel 6

»Als wäre es jetzt immer sehr einfach, etwas zu tun«

Paris – Berlin – Amman 1969 – 1970

Porträt Gudrun Ensslin 1970

Das erste Ziel der Gruppe ist Paris. Die Flucht gelingt ohne Probleme, denn bislang wird nach den Brandstiftern überhaupt nicht gesucht. Dennoch inszenieren die drei ihre Reise als filmreifes Abenteuer, Thorwald Proll spricht im Nachhinein von einer »Erfindung der Illegalität«.192 Es ist der Versuch, aus der als bedrückend empfundenen Wirklichkeit, die die Gefangenschaft war, hineinzuspringen in die Fiktion einer spektakulären Flucht. Proll spricht auch davon, dass Gudrun Ensslin alles organisiert habe. Sie sei, so meint er, so etwas wie der logistische Kopf des Ganzen gewesen.

Verschiedene Autos mit befreundeten Fahrern werden besorgt. Dazwischen legen die drei auch immer mal wieder eine Strecke zu Fuß zurück. In Paris angekommen, geht es zunächst in die Wohnung eines »Genossen«. Schließlich aber können sie die momentan leerstehende Wohnung von Régis Debray auf der Île de la Cité beziehen. Der Revolutionstheoretiker und Kampfgenosse von Che sitzt in Bolivien in Haft. Debray, Jahrgang 1940, entstammt einer einflussreichen, vermögenden französischen Familie. Das edle Ambiente der Wohnung scheint Gudrun Ensslin geistig zu inspirieren. Man könnte sich hier durchaus einer intellektuellen Arbeit zuwenden. Sie plant, an einem Buchprojekt über die Erfahrungen aus der Haftzeit weiterzuarbeiten. Schließlich hat sie bereits in Frankfurt einen Vertrag mit dem März Verlag unterschrieben. Aber nun in Paris, an ihrer Seite ein vor Tatendurst und Energie berstender Andreas Baader, kann sie ihren intellektuellen Schreibwunsch nicht durchsetzen. Es wäre mit Sicherheit spannend gewesen, lesen zu können, welche Ideen Ensslin zum Thema entwickelt hätte. So aber muss sie das »Bau«-Projekt endgültig aufgeben. Stattdessen erweitert sich das Trio bald zu einem Quartett: Astrid Proll kommt mit einem weißen Mercedes und viel Bargeld in Paris an und wird vor allem von Andreas Baader freudig aufgenommen. Ihr ist es zu verdanken, dass es ein paar aussagekräftige Fotos aus diesen Pariser Wochen gibt. Die meisten davon entstehen in einem Café. Das Paris-Fieber hat sie alle erfasst. Gudrun Ensslin wirkt auf den Fotos glücklich, gelöst. Sie lacht viel oder lächelt zumindest auf höchst anmutige Weise. Vor allem die Café-Fotos zeigen eine sanfte, fast liebliche Ensslin. Andreas Baader blickt dagegen beinahe melancholisch in die Kamera, wirkt weniger präsent. Verliebt sehen sie auf jeden Fall beide aus. Auf Fotos, die in der Wohnung von Debray aufgenommen werden, blickt auch Ensslin ernst, in sich versunken. In dieser Umgebung scheint Andreas Baader aufzutauen und sich gern fotografieren zu lassen. Alles andere, was diese Tage und vor allem die Nächte füllt, klingt sehr nach Männer-Tour. Unzählige Kneipen, Bars, Diskotheken werden aufgesucht. Proll und Baader probieren weißen Rum, flanieren über den Flohmarkt. »Da haben wir uns Lederjacken gekauft. Sind da herumgestromert. Haben da geschossen in den Schießbuden. U-Bahn sind wir gefahren. Ins Kino sind wir gegangen.«193 So lauten Thorwald Prolls Äußerungen aus der Erinnerung an diese verrückte Pariser Zeit. Das Ganze riecht aber eigentlich nicht nach Entspannung, sondern weit eher handelt es sich um eine in diverse Vergnügungen hineinkanalisierte Energie, die ihre eigentliche Richtung noch nicht gefunden hat. Sie wollen ja schließlich ernsthaft etwas bewegen.



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