Phantom des Alexander Wolf by G Gasdanow

Phantom des Alexander Wolf by G Gasdanow

Autor:G Gasdanow [Gasdanow, G]
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2012-09-09T22:00:00+00:00


Und mir fiel ein, dass ich mir schon seit langem vorstellte, was jetzt eingetreten war: ein Restaurant, Musik und inmitten trunkener Zigeunermelancholie das tote Gesicht des unbekannten Verfassers von »I’ll Come Tomorrow«. Ich schloss die Augen; vor mir türmte sich ein ungeheures Gemisch von Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen, alles durchsetzt von ein paar Motiven und den Melodien, die ich in meiner Phantasie hörte, wenn ich mir Marinas Gesang vorstellte, akkompagniert von Sascha Wolf. Dann wieder erblickte ich mit ungewöhnlicher Klarheit das schwarze Korn der Pistole, schwankend wie im Schlaf, vor meinem rechten Auge. Mir war allmählich, als hätte ich Schüttelfrost, als glitte ich in Fieberwahn.

Schließlich stand ich auf und ging, trotz der stürmischen Proteste Wosnessenskis; er reckte die Hand, die das Wodkaglas nicht losließ, in meine Richtung und wollte mich überreden, erst noch ein Weilchen hierzubleiben und dann woandershin mitzukommen. Es wäre mir vielleicht sehr schwergefallen, seine hartnäckige Einladung auszuschlagen, aber ich schützte dringende Arbeit vor. Alles, was mit Literatur oder Journalismus zu tun hatte, galt ihm beinahe als heilig, daran konnte auch seine Betrunkenheit, egal welchen Grades, nichts ändern.

»Dann wage ich Sie nicht zurückzuhalten, lieber Freund«, sagte er. »Ich wünsche Ihnen ein erfolgreiches Mühen.«

Ich trat aus dem Restaurant – gleich nach Hause zurückkehren mochte ich nicht. Ich ging die Rue de la Convention hinab, in Richtung der Seine. Es war gegen halb zwölf Uhr abends, es war warm, das junge Laub raschelte an den Bäumen, die erst kürzlich ausgeschlagen hatten und noch nicht schlaff und verstaubt aussahen wie später im Sommer. Die Begegnung mit Wolf ließ mir keine Ruhe, zum hundertsten Mal rekonstruierte ich im Gedächtnis alles, was mit ihm zusammenhing – von dem Moment, als er quer über dem Weg lag, bis zu dem Buch, das er geschrieben hatte, und bis zu meinem Besuch bei dem Londoner Verleger, der einen so schrecklichen Hass gegen ihn empfand. Ich überlegte, dass Wolf – weniger er selbst, vielmehr jeder Gedanke an ihn – für mich unwillkürlich zur Verkörperung all dessen geworden war, was es in meinem Leben an Totem und Traurigem gab. Hinzu kam das Bewusstsein meiner eigenen Schuld: Ich fühlte mich fast wie ein Mörder, der erschüttert ist über das soeben verübte Verbrechen, angesichts der Leiche seines Opfers. Und obschon ich kein Mörder und Wolf keine Leiche war, konnte ich diese Vorstellung nicht loswerden. ›Worin besteht eigentlich meine Schuld vor ihm?‹, fragte ich mich. Und wenngleich jedes Gericht, nehme ich an, mich freigesprochen hätte – ein Militärgericht, weil das Töten Gesetz und Sinn des Krieges ist, ein Zivilgericht, weil ich aus Notwehr gehandelt hatte –, blieb doch etwas unendlich Bedrückendes zurück. Ich hatte ihn nie töten wollen, ich hatte ihn einen Moment vor meinem Schuss erst erblickt. Warum enthielt der Gedanke an ihn solch ein unauslöschliches Bedauern, solch eine unüberwindliche Traurigkeit?

Und ebenso unvermittelt, wie ich eine halbe Stunde vorher im Restaurant begriffen hatte, weshalb Wolf anderen Menschen nicht glich – es lag an meiner Vorstellung von seiner Phantomhaftigkeit und der zufälligen Übereinstimmung seines Äußeren mit dieser Vorstellung –, so wurde mir jetzt klar, aus welchem Grund ich mir einer nicht existierenden Schuld bewusst war.



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