Palast aus Staub und Sand by Haroon Gordon

Palast aus Staub und Sand by Haroon Gordon

Autor:Haroon Gordon [Gordon, Haroon]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 978-3-95751-157-7
Herausgeber: hockebooks gmbh
veröffentlicht: 2016-07-11T16:00:00+00:00


Zweiter Teil

Kapitel 1

Abda – Algerien, 1944

»Glaube mir ruhig, du kannst springen. Es ist nicht so tief, wie es aussieht«, rief Baptiste nach oben. Er stand auf einem der zahllosen und willkürlich im Sand verteilten Felsbrocken, die vor Jahrtausenden aus dem vor ihm aufragenden Massiv herausgebrochen waren. Dabei presste er seine flache Hand zum Schutz vor der gleißenden Sonne wie den Rand einer Kappe an die Stirn und versuchte so, Gabriel da oben besser auszumachen. Da oben – das war in seinem Fall eine beeindruckende Höhe bis zu einem schmalen Felsvorsprung auf dem Gabriel stand. Aber Baptiste konnte nicht mehr als die Schemen seines Freundes erkennen, so sehr wurde er von der strahlend hellen Sonne geblendet.

Also sprang er von seinem Platz in den Sand und lief zu einem viel größeren Stein herüber, der Schatten und bessere Sicht versprach. Er hockte sich nieder und konnte Gabriel nun deutlich erkennen. Der stand da, dünn und schmächtig, mit nicht mehr als seiner Unterhose am Leib, und blinzelte ängstlich in die Tiefe. Dabei presste er seinen zerbrechlichen Körper an die Felswand, um bloß nicht den rettenden Kontakt zum sicheren Gestein zu verlieren, und musste sich zweifellos fragen, wie er in diese Misere hineingeschlittert war.

Es war Baptiste, der nach dem Mittagessen aus dem elterlichen Haus gestürmt war, weil er seit Tagen ungeduldig auf den richtigen Zeitpunkt für dieses Abenteuer gewartet hatte. Vorher hatte er seine Mutter mit herzerweichenden Bitten traktiert und ihr obendrein aufs Heiligste versprochen, sämtliche Schularbeiten am Abend nachzuholen. Während er um Erlaubnis bettelte, hielt es ihn kaum auf dem Stuhl. Sich zur Ruhe zwingend und auf seinem Gesäß hin und her rutschend – und dies beides zugleich – hörte er, wie seine Stimme vor Aufregung hüpfte und kiekste und sich ein ums andere Mal überschlug, während er seiner Mutter zu erklären versuchte, dass sein Vorhaben unaufschiebbar war.

Es war eine der seltenen Zeiten im Jahr, zu denen sich der Himmel tage- und nächtelang ohne Unterlass in reißenden Strömen auf die Erde ergoss, und die stürmischen Regenwolken den heißen Temperaturen der Wüste trotzten und ihre Ladung schmatzend und satt auf den ausgedorrten Boden des gesamten Atlasgebirges schütteten.

Und heute war endlich der erste Tag danach! Danach bedeutete, dass sich sämtliches Wasser aus dem Gebirge den Weg in die Täler suchte. Kleinere und größere Adern, plätschernde Rinnsale bis hin zu meterbreiten, kraftvollen, abwärts strebenden Strömen, die weder durch Stock noch Stein aufzuhalten waren und sich schließlich in den natürlichen, steinernen Bassins am Fuße der Bergketten sammelten und zur Ruhe kamen. Und heute, da die Sonne wieder in ihrer gewohnten Form und Hitze über Abda brütete, konnte Baptiste keinesfalls seine Zeit mit so profanen Dingen wie Hausaufgaben vergeuden, denn nun konnte man in die formidablen, natürlichen Auffangbecken springen und darin schwimmen, tauchen und auf Entdeckungsreise gehen. Sich wie die Höhlenforscher fühlen, von denen ihm Abbe Seth, sein Lehrer, so viel erzählte. Oder sich in einen Tiefseetaucher verwandeln. So, wie es das Phantom tat, wenn es zur Rettung nicht weniger als der gesamten Menschheit seine Heldentaten vollbrachte, von denen er jede Nacht in neuen Kapiteln heimlich unter der Decke las.



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