Opfer by Jesper Wung-Sung

Opfer by Jesper Wung-Sung

Autor:Jesper Wung-Sung
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2016-04-12T16:00:00+00:00


XVIII

Caroline war die erste aus der Klasse, die starb. Der Ablauf war derselbe: Die ganze Schule versammelte sich am Sportplatz, der betreffende Lehrer und die Klasse des Schülers standen am nächsten zum Grab, neben Benjamins Vater, während sich der Rest der Schule im Halbkreis um sie herum versammelte.

Caroline wurde unmittelbar vor dem Zielfeld beerdigt. Alle aus der Klasse waren gekommen, auch Simon. Er war sogar noch dazu vorneweg gelaufen, ohne seine Aufmerksamkeit auf den Vogel oder Benjamin zu richten. Emilie nickte Simon zu und legte die Hand auf seinen Hinterkopf. Benjamin war zutiefst verwundert, aber er genoss es – nur für einen Moment von einem der Schatten befreit sein, die ihn die ganze Zeit verfolgten. Benjamin betrachtete seinen Vater, seine schmutzigen Kleider, sein scharfes Profil. Er hatte ihn wiederholt draußen in der brennenden Sonne gesehen – alleine oder in Gesellschaft des Hausmeisters oder des Werklehrers Erik –, wie er den Spaten in die harte Erde rammte. Es schien, als würde sein Vater darauf bestehen, jedes Grab persönlich zu schaufeln. Und es war, als ob er und Benjamin sich in alldem nicht richtig näherkommen konnten. Plötzlich stand Simon neben Benjamin wie ein zitternder Hund.

»Er tut nichts«, flüsterte Benjamin. »Nicht, solange wir uns vom Zaun fernhalten.«

Jetzt war es Simon, der Benjamins Hand nahm, oder besser gesagt, der zuließ, dass Benjamin die Finger um seine geballte Faust schloss. Benjamin spürte, wie sehr Simon bebte.

»Wir schaffen das schon. Ich verspreche es dir, Simon.«

Drei Lehrer und Benjamins Vater legten Caroline in die Grube, Emilie hielt eine Rede, die Simon zum Schluchzen brachte und Benjamin die Tränen in die Augen trieb. Für Benjamin schien sie wie ein Engel zu leuchten. Sie sprach von Caroline und der Klasse, von der Klasse und Caroline, sodass sogar Liam gerührt war. Er spähte verstohlen zu dem Vogel, als wollte er seine Trauer in Wut verwandeln, folgte ihm mit den Augen, als versuchte er herauszufinden, wo sein blinder Fleck sein könnte. Danach sang die Schule ein Kirchenlied und bei der letzten Strophe spürte Benjamin plötzlich etwas Warmes und zugleich Kühles in seiner Handfläche. Er erkannte es sofort. Das glatte Holz, die Kante der Stahlklinge. Es war das Taschenmesser, das er von seinem Großvater geerbt hatte. Das Messer, von dem er dachte, Liam habe es gestohlen. Dabei war es Simon gewesen.

Bevor er etwas sagen konnte, war Simon weg. Für einen Moment fürchtete Benjamin, Simon könne zum Zaun rennen, aber dann sah er ihn über den Sportplatz in Richtung Schule spurten. In dem Moment, in dem Simon verschwand, richtete Benjamin den Blick auf den Vogel, der kreiste, als wäre er der Tonabnehmer eines Plattenspielers, wie man sie in älteren Filmen zu sehen bekam, und Benjamin verstand, so deutlich wie den Refrain eines Lieds: Es war das schlechte Gewissen, das Simon dazu getrieben hatte, das Messer von zu Hause zu holen, an jenem Tag, als alles aufhörte und das hier begann. Dass Simon, hätte er nicht an Benjamin gedacht, nicht hier wäre.



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