One: Die einzige Chance (German Edition) by Tobias Elsäßer

One: Die einzige Chance (German Edition) by Tobias Elsäßer

Autor:Tobias Elsäßer [Elsäßer, Tobias]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
veröffentlicht: 2013-10-05T22:00:00+00:00


Fünfzehn

Berlin | 22 Grad | Nieselregen

Der Geruch der Tankstellentoilette war widerlich. Obwohl Samuel pochende Schmerzen hatte, konnte er den zähen Gestank nach Pisse nicht ausblenden. Die verdreckte Klobürste mit dem abgebrochenen Stiel erledigte den Rest.

»Stillhalten«, befahl Fabienne, beugte sich über ihn und tupfte die Platzwunde an seiner Stirn mit Klopapier ab. »Ich glaub, das muss genäht werden.«

»Wird schon nicht so schlimm sein«, sagte Samuel, stieß mit seiner Zunge gegen einen Vorderzahn und erschrak: Er wackelte!

»Anzeigen müsste man diesen Wichser. Solche Leute gehören in die Klapse. Die haben diese ganze Klassenscheiße so verinnerlicht, dass sie sich wieder wie Steinzeitmenschen verhalten.« Sie griff ihm unter die Achseln. »Wir müssen ins Krankenhaus. Ein Pflaster hilft da nicht. Wenn da was reinkommt, kriegst du ’ne Sepsis.«

»Eine was?«

»Blutvergiftung.«

»Bist wohl vom Fach.«

»Hab meinem Vater ab und zu in der Praxis geholfen.«

»Also doch nicht Unterschicht«, sagte Samuel.

»Er ist Tierarzt. Aber die Unterschiede zum Menschen sind ja nicht allzu groß. Jede Spezies kämpft ums Überleben.«

Samuel hatte Mühe aufzustehen. Die Welt drehte sich. Zielsicher fand seine Zunge den lockeren Zahn und schob ihn vor und zurück. Dieses Vergnügen hatte er das letzte Mal in der Grundschule gehabt. Doch diesmal würde ihm die Zahnfee keine sprechende Darth-Vader-Figur unter das Kopfkissen legen. Aus irgendeinem Grund – wahrscheinlich hatte sein Körper den hauseigenen Drogenschrank geöffnet – amüsierte ihn die Vorstellung, seiner Mutter mit einer Zahnlücke gegenüberzutreten. Sie würde vor Schreck in Ohnmacht fallen.

»Wieso lächelst du?«, fragte Fabienne verwundert. Samuel griff mit Daumen und Zeigefinger nach dem Zahn und wackelte daran. »Ist nicht wahr!« Fabienne wirkte ehrlich schockiert. »Das wird richtig teuer. Zähne sind teurer als Gold.«

Mit der Schulter stieß sie die Metalltür auf. Draußen war es still. Kaum vorstellbar, dass hier vor wenigen Minuten noch Chaos geherrscht hatte. Bis auf ihren Wagen war die Tankstelle leer. Die Stille wurde von fernem Sirenengeheul durchbrochen, das sich unrhythmisch mit dem Plätschern dicker Regentropfen vermischte, die auf ein Wellblechdach trafen, unter dem ausgemusterte Reifen und ein altes Motorrad standen. Die elektrische Glastür zuckte zurück, als sie am Verkaufsraum vorbeikamen. Die Stimme eines Nachrichtensprechers empfing sie, der von Stromausfällen, Lieferengpässen und Hackerangriffen berichtete. Der Tankwart trat bewaffnet mit einem Besen nach draußen und machte sich daran, den Müll und die Scherben zur Seite zu kehren. Er schenkte ihnen keine Beachtung. Auch nicht, als Fabienne auf den Fahrersitz stieg und die gesplitterte Frontscheibe mit den Füßen aus dem Rahmen drückte.

»Einsteigen«, sagte sie zu Samuel, der das gefaltete Toilettenpapier noch immer auf die Platzwunde drückte. Er lehnte sich gegen den Wagen und genoss den aufsteigenden Schwindel, der seine Wahrnehmung dämpfte und den Schmerz auf einem erträglichen Level hielt. Fabienne musste ihm dabei helfen, auf den Beifahrersitz zu steigen. »Vermutlich hast du dir auch die Hüfte geprellt«, stellte sie fest und schloss den Sicherheitsgurt um seinen Körper.

Noch immer war der Himmel dunkelgrau und die Welt wirkte, als hätte man sie ihrer Farben beraubt. Ein fahles Licht wie kurz vor Einbruch der Dunkelheit, obwohl es erst kurz nach acht war. Sie tuckerten langsam über die Landstraße. Dennoch peitschten ihnen Regentropfen ins Gesicht, als wären es kleine Geschosse.



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