Null bis unendlich by Lena Gorelik

Null bis unendlich by Lena Gorelik

Autor:Lena Gorelik [Gorelik, Lena]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783644119918
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-08-27T16:00:00+00:00


Sex

Nils Liebe hatte alles gelesen, wirklich alles, und dennoch fiel ihm kein einziger Autor ein, der so über Sex geschrieben haben würde, wie man seiner Ansicht nach über Sex zu schreiben hatte: kein Abblenden, keine Romantik und niemals Pornographie, die sich von platter Nacktheit nährt. Er hatte lange gesucht. Gute Sätze wären ihm als Vorlage lieber als Nacktbilder gewesen. Er hatte diese Sätze nicht gefunden und die Suche bereits vor Jahren aufgegeben. Schade. Er versuchte, seine Enttäuschung über die Großen auf diesem Gebiet zu ignorieren, wenn er ihre Werke wieder las.

Sanela hatte gelernt, sich vom Sex das zu holen, was sie brauchte: einen Orgasmus. In gewisser Weise hatte sie Sex gelernt. Das Gegenüber spielte höchstens als notwendiges Hilfswerkzeug eine Rolle.

Von dem Tag an, als Nils das erste Mal mit einer Frau geschlafen hatte, wusste er, dass er sein Leben, wenn nicht dem Lesen, dann dem Sex verschreiben würde. An jenem Tag war er zweiundzwanzig Jahre, sieben Monate und drei Tage alt. Ein Spätzünder, hieß es, aber er hatte nicht spät gezündet, sondern mit den Mädchen in der Stadt, in der er aufgewachsen war, nicht gesprochen. Es hatte sich als bedauernswerte Tatsache herausgestellt, dass Mädchen erst dann mit einem schliefen, wenn man vorher mit ihnen sprach. Worüber denn?

Sanela war ungefähr acht, als sie von dieser Sexgeschichte erfuhr. Sie war verwirrt. Wer steckte was wo rein? Ihre Freundin hatte es auch nur so halb erklären können. Angeblich bluteten Frauen einmal im Monat. Sanela gab sich Mühe, sich das Ganze vor Augen zu führen: ihre Mutter, ihre Tetka, ihre Lehrerin nackt. Ein Blutrinnsal läuft an ihren Beinen herunter. Auf dem Boden ein dunkelroter Fleck. Einen solchen hätte sie doch schon einmal sehen müssen. Ein paar Wochen später lief sie mit ihrer Mutter im Dunkeln eine Straße entlang (sie konnte sich später nicht an das Wohin, nicht an das Warum erinnern, aber an das Dunkel, auf das sie gewartet hatte) und fragte: Kommt da Blut jeden Monat aus dir heraus? Und steckt Tata was rein? Es war dunkel, aber den Blick, den ihre Mutter ihr zuwarf, konnte sie dennoch erkennen. Ihr eigener Sohn war drei Jahre alt, als sie ihm das erste Buch zum Thema sexuelle Aufklärung kaufte, und die Buchhändlerin ihres Vertrauens schüttelte den Kopf und kommentierte ungefragt, es sei vielleicht noch zu früh.

Sanela hatte ihren Vater niemals nackt gesehen. Von ihrem Großvater oder Onkel Ivan ganz zu schweigen. Ein Nachbarjunge hatte ihr einmal seinen Penis gezeigt. Sie waren fünf Jahre alt und zogen sich für diese Darbietung hinter die Scheune zurück. In ihrer Erinnerung sah ein Penis wie ein verunstalteter Finger aus, der an einer falschen Stelle gewachsen war.

Nils Liebe wusste alles über Sex, was man über Sex wissen konnte. Das war keinesfalls seinem Faible für das Thema geschuldet, er wusste ja auch alles über argentinische Ameisen, Flugsimulatoren und stochastische Prozesse. Das Wissen war Theorie. An die Praxis war er genauso herangegangen, wie er gewöhnlich an Theorien heranging: Er wollte alles wissen und fragte. Er hatte die Frauen, mit denen er geschlafen



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