Neuschnee: Thriller (German Edition) by Foley Lucy

Neuschnee: Thriller (German Edition) by Foley Lucy

Autor:Foley, Lucy [Foley, Lucy]
Die sprache: deu
Format: epub, azw3, mobi
Herausgeber: Penguin Verlag
veröffentlicht: 2019-11-30T16:00:00+00:00


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2. Januar

HEATHER

Ich habe endlos viele Tassen Tee aufgebrüht, so viele, dass ich mich allmählich wie die Verlängerung des Wasserkochers fühle. Niemand scheint ihn ernsthaft zu trinken, aber jedes Mal, wenn ich frage, nicken sie alle benommen und sitzen dann da und halten die Tassen umklammert, während der heiße Tee allmählich abkühlt. Jenseits der Fensterfront hört und hört es nicht auf zu schneien. Es fällt mittlerweile schwer, sich eine Zeit vorzustellen, in der er nicht da war, dieser lebende Vorhang aus Weiß.

Normalerweise wimmelt es nach einem Leichenfund von Blaulicht und von Männern in weißen Schutzanzügen. Es herrschen Aufruhr und Hektik. Aber das hier ist kein gewöhnlicher Ort. Und in diesem Fall hat die Natur ihre ganz eigenen Vorstellungen. Das Wetter hat uns wohl oder übel gezwungen, sich seinen ganz eigenen Launen zu beugen. Vielleicht zum ersten Mal, seit ich hergezogen bin, wird mir bewusst, wie fremd dieser Ort ist, wie wenig ich im Grunde über ihn weiß. Es könnte genauso gut ein anderer Planet sein. Ich bin überzeugt, dass es hier Geheimnisse gibt, die weit über die versteckten Whiskybrennerhütten, weit über die kapitalen Hechte in den Untiefen des Sees hinaus­gehen. Das sind lediglich die kleinen Dinge, welche die Landschaft uns zu offenbaren beschließt.

Aus dem Raum nebenan zerreißt ein lautes, kreischendes Heulen die Stille, und ich erschrecke so sehr, dass ich das Teewasser auf dem Boden verschütte. Es ist nur der Säugling, natürlich. Ich muss unweigerlich an das Babygeschrei in der Silvesternacht denken, als ich auf die Toilette gehen musste und dieses seltsame Licht oben auf der Flanke des Munro sah … oder vielmehr glaubte zu sehen. Doch jetzt frage ich mich, ob es sein kann, dass das Schreien andere Laute da draußen überdeckt haben könnte.

Ich denke an all die Geräusche an diesem Ort, die mir mittlerweile normal erscheinen und die ich lieber nicht mehr infrage stelle. Während ich darauf warte, dass das Wasser aufkocht, schweifen meine Gedanken zu einer meiner allerersten Nächte hier zurück. Ich hatte mich in meiner Hütte eingerichtet und konzentrierte mich darauf, nicht allzu viel über irgendwas nachzudenken. Es war die Woche des schrecklichen Jahrestags. Ich hatte ziemlich viel Wein getrunken – eine therapeutische Dosis, anderthalb Flaschen vielleicht −, als ich schließlich ins Bett sank und die Daunendecke über mich zog. Wenn ich etwas über »Stille« gelernt habe – zumindest über diese Art von Stille hier, die der Wildnis –, ist es, dass sie überraschend laut sein kann. Die Hütte ist alt, und so knarzte und ächzte es um mich herum. Draußen in der Nacht waren die Rufe der Tiere zu hören – zwei Eulen, vertieft in ihr schwermütiges Zwiegespräch. Der Wind rauschte durch die Wipfel der gewaltigen Waldkiefer direkt vor meinem Fenster, es klang wie ein Wehklagen. Man könnte das auch als beruhigend empfinden, redete ich mir selbst gut zu. Vielleicht würde ich mich daran gewöhnen. (Nein, ich habe mich nie so recht daran gewöhnt.)

Doch auf einmal war da der Laut, der alles andere zerriss. Ein Schrei, schrill und verzweifelt. Grauenvoll. Der Schmerzensruf eines Menschen, der entsetzliche Qualen litt.



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