Mutige Frauen 02 - Die Tochter Des Malers by Gloria Goldreich

Mutige Frauen 02 - Die Tochter Des Malers by Gloria Goldreich

Autor:Gloria Goldreich [Goldreich, Gloria]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2018-07-12T22:00:00+00:00


27. Kapitel

Die Jahreszeiten vergingen, während der Krieg in Europa unvermindert andauerte und Bella immer tiefer in ihrer Trauer versank. Sie blieb im Haus, außer wenn Ida sie dazu überredete, die Wohnung für einen kurzen Spaziergang zu verlassen. Stundenlang arbeitete sie an ihren Memoiren und schrieb fieberhaft und bis zur Erschöpfung, ihr Stift raste Seite für Seite über das Papier, als befände sie sich im Wettlauf gegen die Zeit. Dann fiel sie aufs Bett, wo sie sich mit dem Gesicht zur Wand drehte und sich zu einem flüchtigen Schlaf zwang. Sie trank Stärkungsmittel, um zu Kraft zu kommen, und wurde dennoch von Schwächeanfällen geplagt. Marc war indes mitten in einer schöpferischen Phase und so mit Malen beschäftigt, dass er ihr kaum Beachtung schenkte.

An einem Abend im Mai kam Ida nach Hause und fand Bella im Bett vor. Sie trug ihr verblichenes Nachthemd, war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihr Haar hing in fettigen, ungekämmten Strähnen. Manuskriptseiten lagen verstreut auf dem Nachttisch; die Tasse mit ihrem Morgenkaffee stand halbleer daneben, und die Scheibe Toast, die Ida ihr morgens hingestellt hatte, war unberührt und hart wie ein Stück Pappe.

»Hast du den ganzen Tag im Bett gelegen?«, fragte Ida und fürchtete die Antwort.

»Ich war zu müde, um aufzustehen«, sagte Bella. »Zu schwach zum Arbeiten. Bin das Leben zu satt.« Sie zeigte auf die verstreuten Bogen, auf denen Worte und ganze Absätze durchgestrichen waren. »Die Worte kommen nicht, und wenn sie es tun, sagen sie nicht das, was ich eigentlich sagen will«, fuhr sie fort. »Ich schreibe wie in einem Nebel und kämpfe damit, über etwas zu schreiben, das es nicht mehr gibt. Witebsk ist verschwunden. Nur noch ein Schatten in meiner Erinnerung.«

»Aber Witebsk wurde befreit. Das Blatt des Krieges wendet sich«, sagte Ida ungeduldig.

»Ja, ich weiß, aber was bedeutet diese Befreiung für mich, Idotschka? Was ist von dem Haus meines Vaters noch übrig oder von der Synagoge, in der dein Vater und ich geheiratet haben? Letzte Nacht habe ich geträumt, dass Bräute im Hochzeitskleid zitternd um ein Feuer herumsaßen. Ihre Mieder waren zerrissen, zum Zeichen der Trauer, denn nur Minuten nachdem sie geheiratet hatten, waren sie Witwen geworden. Sie saßen mitten zwischen der Asche der Synagoge und der Asche ihres Hochzeitsthrones. Warum sollte ich so etwas träumen, wenn es nicht etwas zu bedeuten hätte?«

Ida kniete sich neben das Bett, nahm Bellas Hand in ihre und bemühte sich, die richtigen Worte zu finden.

»Es war nur ein Traum. Er bedeutet nichts. Du bist erschöpft, weil du hart gearbeitet hast. Du gibst dein Bestes, Mamotschka, so wie immer. Du bist eine gute Schriftstellerin und eine großartige Geschichtenerzählerin. Ich kann mich immer noch an die Geschichten erinnern, die du mir als Kind erzählt hast. Dein Buch wird ein wichtiges werden. Wenn du dich ausgeruht hast, wird dir das Schreiben wieder leichter fallen. Lass dir Zeit.« Sie sprach mit einer Bestimmtheit, die sie nicht fühlte, doch Bella beruhigte sich.

»Aber bleibt mir genug Zeit?«, fragte sie. »Ich glaube, dass die Asche in meinen Träumen für die Worte steht, die ich brauche, um die Lichter meiner Geschichte wiederzuentzünden.



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