Morgenschwimmer by Donovan Gerard

Morgenschwimmer by Donovan Gerard

Autor:Donovan, Gerard [Donovan, Gerard]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2016-01-20T16:00:00+00:00


Der Morgen kam, und die Sonne war ein blassgelber Kreis, der wie eine Fingerspitze gegen das Eis am Fenster drückte. Ich schaute auf die Straße hinunter und sah, dass die Maschine eine Bahn für die Autos freigeräumt hatte. Meine Mutter las am Frühstückstisch Zeitung.

Richard und Stephen kommen morgen für ein paar Tage, sagte sie, als sie mich hörte. Sie werden in deinem Zimmer schlafen müssen.

Ich kannte die beiden. Es waren die Söhne ihrer Schwester. Meine Mutter sah zu, wie ich mir Tee einschenkte, und lächelte. Ihre Mutter und ihr Vater brauchen ein bisschen Zeit für sich. Räum dein Zimmer auf und mach sauber, ja?

Ich vermutete, dass die Eltern der beiden Krach hatten. Ich hatte Richard und Stephen seit Jahren nicht mehr gesehen; sie waren ein, zwei Jahre jünger als ich, sonst wusste ich fast nichts mehr von ihnen. Aber an dem Tag hatten wir andere Sorgen. Bis elf Uhr schneite es so heftig, dass der Wetterbericht vom stärksten Schneefall in Irland seit dem Zweiten Weltkrieg sprach. Der See hinter unserem Haus fror zu, und das Wetter in der Nacht war das schlechteste seit Menschengedenken, obwohl wir nicht ganz so schlimm dran waren wie die übrigen Landesteile. In den Midlands, wo in manchen der kleineren Städte die Straßen durch Schneewehen unpassierbar waren, mussten schwere Militärlaster ausrücken. Im Norden herrschten so heftige Stürme, dass die kleineren Inseln abgeschnitten waren.

Als die beiden Jungen tags darauf mit dem frühen Nachmittagszug ankamen und mit dem Bus nach Moycullen fuhren, war das Unwetter abgeflaut. Sie ruhten sich zwei Stunden aus, dann tappten wir über den zugefrorenen See, weil der Himmel aufklarte. Es muss lange nach sechs gewesen sein, als der Mond hinter einer Wolkenbank hervorschwamm und sein gelber Tüll sich wie Butter über das weiße Eis ausbreitete. Ich bretterte mit dem Rad über das Eis, während die anderen beiden vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzten.

Meine Mutter rief uns zu: Passt auf, der See ist gefährlich, auch wenn er nicht tief ist!

Okay, sagten sie, und gingen noch langsamer. Ich fuhr in die Seemitte und kümmerte mich nicht um sie. Eine Weile später sah ich, dass die Brüder zusammenstanden und auf das Eis hinabschauten. Ich fuhr hinüber.

Mein Gott, wir haben schon gedacht, du kommst gar nicht mehr, sagte Richard und zeigte auf etwas. Ich ließ das Rad fallen und ging zu ihnen.

Da ist jemand im Eis, sagte Stephen. Jemand ist im Eis.

Ich kniete mich hin, aber der Mond war hinter den Wolken verschwunden. Wir warteten in der pechschwarzen Finsternis, bis der Mond wieder zu den Sternen herauskam und ein Gesicht beleuchtete, das uns unter dem Eis hervor anstarrte.

Mein Gott, sagte Richard.

Ich berührte mit der Nase die kalte Fläche. Ein Junge, vielleicht siebzehn, im Smoking, die Hände vor den Schultern, die Handflächen nach oben, stemmte sich gegen das schmutzige Glas, als wollte er uns bitten, ihn herauszulassen, ihn zurückkommen zu lassen. Sein Gesicht leuchtete, es war schön und klar.

Wir müssen die Polizei rufen, sagte Stephen.

Ich nickte, wunderte mich, wie ruhig die beiden waren, und staunte auch über meine eigene Ruhe.



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